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Die Weltgeschichte hat manchmal einen merkwürdigen Sinn für Pointen. Zur gleichen Zeit, als Trumps rechtsradikale Truppen das Capitol in Washington stürmten, meldeten die Nachrichtenagenturen, dass Jon Ossof, der junge Kandidat der Demokraten, bei der Auszählung genug Stimmen gesammelt hatte, um als Sieger der Senatsnachwahlen in Georgia ausgerufen zu werden. Mit ihm und Raphael Warnock, der den zweiten Senatssitz in der einstigen Republikaner-Hochburg gewann, erreichten die Demokraten doch noch die Mehrheit im Senat, der entscheidenden Kammer im US-Kongress. Ohne diese wäre die überfällige Wende der amerikanischen Politik auch unter einem neuen Präsidenten Joe Biden sehr viel schwerer geworden – der Wiedereintritt in das Pariser Klimaschutzabkommen zum Beispiel.

Die Gleichzeitigkeit von Ossofs Sieg und dem gescheiterten Putschversuch illustriert auf dramatische Weise die Fragilität und die wunderbare Kraft der Demokratie. Im komplizierten Alltag der parlamentarischen Demokratie hierzulande, mit all ihren Schwächen, den verdeckten Lobbyeinflüssen und ihrer erschöpften Sprache, vergessen wir manchmal, was für eine atemberaubende Idee eigentlich dahinter steckt.

Die 1948 von der Generalversammlung der gerade gegründeten Vereinten Nationen verabschiedete „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ beschreibt diese gleich in Artikel 1 in nüchternen, kraftvollen Worten: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Artikel 21 ergänzt: „Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.“ Im Einsatz für das Recht, über die eigenen Geschicke mit zu entscheiden – egal, woran man glaubt, wie man aussieht, welches Geschlecht oder wie viel Geld man hat – sind hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen gestorben. Man muss diesen demokratischen Kerngedanken immer wieder mal zu Ende denken, weil in ihm eine Haltung zur Welt steckt, die letztlich unser gesamtes Handeln bestimmen sollte. Denn ihm liegt neben der Achtung für alle Menschen der universelle Respekt für das Leben und die Vielfalt zugrunde, ohne den es keine Umweltbewegung geben würde.  

Aus dem Bundesstaat Georgia, wo sich diese Woche dank der Senatsnachwahlen von Jon Ossof und Raphael Warnock die Zukunft der USA (hoffentlich) zum Besseren gewendet hat, kommt mit John Lewis eine der legendären Figuren der Bürgerrechtsbewegung. Lewis, der, von Freunden wie von politischen Gegnern betrauert, vergangenen Juli starb, kämpfte Zeit seines Lebens für die Gleichberechtigung der Schwarzen und anderer Minderheiten. Von seiner nimmermüden Arbeit für ihr Wahlrecht und ihr politisches Engagement führt eine direkte Linie zu den Aktivistinnen und Aktivisten rund um die eindrucksvolle Stacey Abrams, die in den vergangenen Wochen unablässig in den vergessenen Gegenden Georgias Wähler registriert und Wahlhindernisse ausgeräumt haben – gegen das traurige Mantra der vielen, ihre einzelne Stimme könne ja doch nichts ändern. Dass letztlich aber eben doch Menschen wie die allein erziehende Supermarktkassiererin aus Atlanta, der Bauarbeiter aus Savannah, die vietnamesischstämmige Küchenhilfe, der junge Klimakämpfer und Erstwähler oder der schwarze ehemalige Landarbeiter, der noch erinnert, wie es war, als Männer wie er die Toilettenräume für Weiße nicht benutzen durften, mit ihren Wahlzetteln die hässliche Herrschaft der Trump’schen Republikaner beendet haben, zeigt die ungebrochene Kraft der demokratischen Idee.  

Demokratie sei kein Zustand, hatte der Bürgerrechtler John Lewis in seinem letzten Essay angemahnt, der vergangenes Jahr kurz nach seinem Tod erschien. „Demokratie ist Handeln.“  

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein handlungsstarkes und gesundes Neues Jahr!

 

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Unser Autor Fred Grimm über die Fragilität und den Zauber der Demokratie
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Fred Grimm
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