An alle Transformers!

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kürzlich schrieb uns ein Leser, der in Finnland lebt. Seit Jahrzehnten unterstützt er Greenpeace. Ideell – und mit Aktionen. Er war dabei, als Aktivistinnen und Aktivisten in diesem März in einem finnischen Güterbahnhof drei russische Kohlezüge eines Nachts mit den Slogans „NO COAL“, „NO WAR“ und „НЕТ ВОЙНЕ“ bepinselten. Die Züge rollten mit Antikohle- und Antikriegsbotschaft zurück nach Russland. Und der Leser fuhr seine Mitstreitenden im Kleinbus zurück nach Helsinki. Im Wagen, schreibt er, roch es ironischerweise nach „panssarimaali“, Panzerfarbe, die auch auf Güterzügen gut hält. Der Mond schien, die Leute schliefen und er, der Fahrer, hing seinen Gedanken nach.

„Für mich war der Name Greenpeace immer Programm“, schreibt er. Zum einen gebe es „keine sinnvolle Alternative zu einem bedingungslosen, grünen Weltfrieden“. Zum anderen glaube er, dass die Chance dafür „noch nie so gut war wie jetzt“. Er schrieb von der „Machbarkeit des Wandels“ und „glücklich machenden Pionierprojekten“. Als uns diese Zeilen erreichten, war das neue Greenpeace Magazin gerade in Druck gegangen. Sie passen gut zum Titelthema des Heftes, das heute erscheint – zum sozialökologischen Wandel, der ohne jede Übertreibung auch die Große Transformation genannt wird.

Kein Zurück auf Normal

Vielleicht standen die Chancen für den Wandel zur post-fossilen Gesellschaft, für die Rettung unserer Zukunft wirklich nie so gut wie jetzt. Vielleicht ist der entsetzliche Krieg einer Diktatur, die ihre Macht auf Kohle, Öl und Gas gründet, der Anstoß, auch den anderen entsetzlichen Krieg zu beenden: den Krieg der Menschen gegen das Klima. Beide Kriege sind fossiler Natur, und beide sind am Ende selbstzerstörerisch.  Aber reicht der Schrecken dieses Krisenjahres, damit Politik und Gesellschaft aufhören, Normalität zu simulieren, wo längst keine mehr ist? Werden wir uns der Tatsache stellen, dass es ein Zurück zum alten Normal nicht gibt?

Drei Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine schien es einen Moment lang so. Damals sprach FDP-Chef Christian Lindner im Bundestag von Erneuerbaren als „Freiheitsenergien“. Es klang, als würde nun der Turbo für den grünen Frieden gezündet – zumindest erstmal für Windräder und Solarpaneele. Neun Monate später sind Genehmigungsrekorde aber vor allem für Flüssiggas-Terminals zu verzeichnen. Die Debatte, ob Deutschland selber fracken sollte, ist wieder auf dem Tisch. Im Abschlussprotokoll der Weltklimakonferenz fehlen die wichtigen Worte Öl- und Gasausstieg. Und Anfang dieser Woche – die Nationalelf schmorte noch bei Rekordhitze in der Winterwüste – sagte Qatar Energy Gaslieferungen nach Brunsbüttel zu. Keine riesigen Mengen, aber doch. Der viel kritisierte LNG-Deal läuft von 2026 bis 2041 – wenn Deutschland fast schon klimaneutral sein muss. Gerade entsteht also fossile Infrastruktur für Jahrzehnte, in denen sie nichts mehr zu suchen hat. Und ob sie auf Wasserstoff umgerüstet werden kann, wird von Fachleuten bezweifelt.

Wie geht Transformation?

Angesicht der Tendenz zum Festhalten am Alten haben wir in der Redaktion uns etwas verzagt gefragt, ob und wie die Große Transformation gelingen kann. Im Meckerteil unserer neuen Ausgabe zeigen wir unter anderem, wohin mehr als sechzig Milliarden Euro umweltschädliche Subventionen im Jahr fließen. Und mein Kollege Fred Grimm zeichnet in einem Report nach, wie die Regierungen der Merkel-Ära die Energiewende ausgebremst haben. Für die Recherche hat er unter anderem Peter Altmaier (CDU) getroffen, der im fraglichen Jahrzehnt mehrere relevante Ministerämter innehatte. Es waren interessante Gespräche.

Aber kommen wir zur Machbarkeit des Wandels und glücklich machenden Pionierprojekten! Thomas Merten ist für das neue Heft nach Wunsiedel gefahren und berichtet aus einer Kommune im Fränkischen, die weder reich noch schön ist, aber mit klugen Konzepten, Mut und Zusammenhalt in Richtung Energieautarkie strebt. Meine Kollegin Frauke Ladleif und ich haben mit der Zweiten Vorsitzenden der IG-Metall Christiane Benner und Wuppertals grünem Oberbürgermeister Uwe Schneidewind darüber gesprochen, was gegen die Angst vor Veränderung hilft – Schilderungen aus dem Maschinenraum der Transformation. Außerdem retten wir im neuen Greenpeace Magazin die Ehre eines utopischen Ortes, der oft als Schimpfwort herhalten muss: Bullerbü. Und wir zeigen, was Deutschland von anderen Ländern lernen kann.

Was Sie sonst noch wissen müssen

Neben dem Schwerpunkt haben wir für dieses Heft einen konventionellen Bauern besucht, der seinen Schweinen ihren Ringelschwanz lässt. Wir waren in Würgassen an der Weser, wo ein umstrittenes Zwischenlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle entstehen soll, um Deutschlands Atommüllchaos zu bändigen. So viel sei verraten: Es ist erstaunlich, was alles so übrigbleiben wird, wenn das letzte Atomkraftwerk vom Netz geht. Und wir kümmern uns um tierfreie Weihnachtsbraten sowie die Frage: Wie gesund ist vegetarischer und veganer Fleischersatz – und warum ist der oft noch teurer als Fleisch?

Es erscheint mir übrigens verrückt, wie normal sich dieser Advent für uns im reichen Westen trotz Energiekrise bisher anfühlt. Inklusive Festbeleuchtung. Wie alle Jahre wieder beschäftigen uns Glühweinpreise, Wunschzettel und Menüplanung. In Kiew funkeln indessen nicht einmal sparsame LED-Sterne in den Straßen. Denn in der Ukraine lässt Putin gezielt lebenswichtige Infrastruktur bombardieren. Er benutzt, wie Nato-Generalsekretär Stoltenberg diese Woche sagte, den Winter als Waffe. Das ist – in den Worten des Gouverneurs der Oblast Kiew – „Energieterror“. In den nächsten Wochen werden deshalb wieder viele Menschen fliehen, auch nach Deutschland. Sie werden unsere Hilfe brauchen. Vielleicht haben Sie ja ein Zimmer frei?

Der Leser aus Finnland, der uns schrieb, wohnt in einer Jurte. Er betreibt eine Solaranlage, sein Wasser schöpft er aus einem Brunnen. Auch sonst lebt er auf kleinem Fuß. Schon klar: Das können wir jetzt nicht alle so machen. Umso wichtiger wäre eine Gesellschaft, aus der man nicht aussteigen muss, um das Richtige zu tun.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit dem neuen Greenpeace Magazin und ein schönes Wochenende!

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Post für den Kanzler

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Olaf Scholz brauchte nicht einmal einen Brieföffner: Zuerst erschien letzten Freitag der Offene Brief Nummer eins in der Zeitschrift Emma, 28 Intellektuelle aus Kultur und Medien hatten als Erste ihre Namen daruntergesetzt. Sie forderten den Bundeskanzler auf, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern und verlangten, wenn auch etwas verklausuliert, unter Verweis auf das Leiden der Zivilbevölkerung und die Gefahr eines Weltkriegs die Kapitulation der Ukraine. „Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben“, heißt es weiter. Wie dieser konkret zu erreichen wäre, wird allerdings nicht näher ausgeführt.

Erwartungsgemäß brach eine heftige Kontroverse aus, und einige Tage später folgte der Offene Brief Nummer zwei, unterzeichnet von anderen Menschen aus Kultur, Medien und Wissenschaft, der forderte, „die Ukraine rasch mit allen Waffen auszustatten, die sie braucht, um die russische Invasion abzuwehren“ sowie ein Energieembargo und eine verbindliche Beitrittsperspektive zur EU.

Da steht man dann mit zwei Briefen in der Hand und kommt schwer ins Grübeln. Ich muss zugeben, angesichts der Metamorphose des Anton Hofreiter von den Grünen, der plötzlich Panzertypen herunterrattern kann wie einst Abgaswerte, befällt auch mich leichtes Befremden. Besonnenheit ist eine feine Sache, erst nachdenken und dann handeln kann ja keinesfalls verkehrt sein.

Andererseits: Für die Ukraine drängt die Zeit, und Kapitulation kommt für sie nicht infrage. Das machte Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko, Bruder des Kiewer Bürgermeisters, in seiner Antwort auf den ersten Offenen Brief unmissverständlich klar. „Blinder Pazifismus ist genauso gefährlich wie glückselige Kriegstreiberei“, schrieb er, und: „Frieden um jeden Preis, aber um welchen Preis? Unsere Freiheit? Unsere Identität? Unsere Integrität? Das absolut Gute ist nicht der Frieden, sondern die Freiheit und die Gerechtigkeit. Und um sie zu verteidigen, muss man kämpfen.“

Wo es weder Freiheit noch Gerechtigkeit gibt, kann kein echter Frieden herrschen, sondern nur eine Art Friedhofsruhe, erzwungen durch Repression und Gewalt. Es ist unendlich viel mühsamer, eine freie und gerechte Gesellschaft zu schaffen und zu erhalten, als ein Nachbarland zu überfallen (vor allem, wenn man selbst hoch und trocken in einer Art Festung sitzt und das Töten und Sterben jungen Männern aus den ärmsten Schichten und ethnischen Minderheiten überlässt).

„Glückselige Kriegstreiberei“ und eine besinnungslose Hochrüstung kann sich niemand wünschen. Dennoch neige ich dazu, sich in dieser Situation nicht achselzuckend abzuwenden und die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen. Das mag etwas mit Ruanda zu tun haben. Vor einigen Jahren habe ich an dieser Stelle einmal an den Völkermord erinnert, bei dem dort innerhalb von drei Monaten etwa eine Million Menschen abgeschlachtet wurden – und an die verzweifelten Appelle des kanadischen Generalmajors Roméo Dallaire, der vor Ort das winzige verbliebene Blauhelm-Kontingent kommandierte, an die Vereinten Nationen in New York. Sie verhallten ungehört. Sogar das Wort „Völkermord“ war verpönt, was zu allerhand sprachlichen Verrenkungen führte. Ganze 5.000 gut ausgerüstete und ausgebildete Soldaten und ein UN-Mandat hätte er gebraucht, sagte Dallaire später, um das Morden zu stoppen.

Mit 5.000 Soldaten wird es in der Ukraine leider nicht getan sein, und mit 5.000 Helmen erst recht nicht, denn der Gegner ist nicht mit Gewehren und Macheten bewaffnet, sondern mit ungefähr allem, was man sich an Tötungswerkzeug vorstellen kann. Natürlich wären Friedensverhandlungen grandios. Wie und worüber aber verhandelt man mit einem wie Putin? Wie könnte ein Frieden aussehen? Welche Voraussetzungen wären nötig für Verhandlungen? Ist es überhaupt hilfreich, in Kategorien wie „Sieg“ und „Niederlage“ zu denken?

Ich bin mir sicher, dass sich klügere Menschen als ich derzeit bereits den Kopf über all diese Dinge zerbrechen, auch wenn es noch lange nicht so weit sein wird. Einstweilen hoffe ich, dass unser besonnener Bundeskanzler jetzt öfter mal zu uns spricht und uns an seinem Denken und Handeln teilhaben lässt, und zwar möglichst nicht auf Klingonisch.

Und ich hoffe, dass irgendwer die Zeit findet, auch über all die anderen Kriegs- und Krisenregionen dieser Welt sowie mögliche Lösungen nachzudenken: Jemen, seit sieben Jahren im Krieg und Bürgerkrieg. Syrien, seit elf. Äthiopien, wo der Konflikt in der Region Tigray immer wieder aufflammt. Myanmar, wo nach dem Militärputsch vom Februar 2021 Gewalt und Vertreibung herrschen. Afghanistan. Mali, wo die Situation nach zwei Militärputschen und wiederholten Überfällen islamistischer Milizen im Norden des Landes immer brenzliger wird und es kürzlich in dem Ort Moura zu einem Massaker mit über 200 Toten kam. Nigeria, Haiti, Sahelzone, Horn von Afrika…Wie hieß es doch im Offenen Brief Nummer eins: „Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben.“ An Tätigkeitsfeldern für solche Bestrebungen mangelt es nicht.

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Erst der Handel, dann die Moral

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Nun sind es mittlerweile 50 Tage. Während bei uns die Feiertage anstehen und suggerieren, wir könnten einfach mal den Pausenknopf drücken, geht das woanders nicht. Russland führt weiterhin Krieg in der Ukraine. Der Westen reagiert mit Sanktionen, wobei das oberste Prinzip, der Wirtschaft nicht zu schaden, zu teils abenteuerlichen Konstruktionen führt. Zwar haben sich EU und Verbündete entschlossen, sieben russische Banken vom Finanzinformationssystem Swift auszuschließen. Nur eben nicht die größte russische Bank Sberbank und die Gazprombank – denn beide sind für die Bezahlung der Energielieferungen relevant.

Und von denen sind Deutschland und andere EU-Länder abhängig. Das soll sich zwar ändern, aber eher peu à peu als ad hoc: Laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck könnten russische Ölimporte nach Deutschland bis zum Sommer halbiert werden und zum Herbst hin will Deutschland auf russische Kohle verzichten. Erst im Sommer 2024, so heißt es, schaffen wir es, uns vom russischen Gas zumindest weitgehend unabhängig zu machen.

Andere Deals bleiben ganz ohne Ablaufdatum. So lautet die Antwort auf die Frage „Darf man mit einem kriegstreibenden Land Handel treiben?“ bei metallischen Rohstoffen anscheinend: Ja! Nach Informationen des ARD-Politikmagazins Kontraste hat sich die Bundesregierung in vertraulichen Gesprächen mit der EU erfolgreich dafür eingesetzt, bestimmte Metalle wie Nickel, Palladium, Kupfer, Eisenerz, Aluminium und Titan von neuen Russland-Sanktionen auszunehmen. Denn auf diese Rohstoffe ist Deutschlands Industrie angewiesen, auch beim Bau von Solaranlagen, Windturbinen und Batterien für Elektroautos.

Sprich: Die Energiewende, die uns mehr Unabhängigkeit von fossilen Energien verspricht, droht somit alte Abhängigkeiten zu verstärken oder neue zu schaffen. Das Dilemma, welchen Handelspartner man wählen soll, beginnt von vorne. Wobei die Auswahl beim Gas besonders dünn ist. Das weiß auch Robert Habeck, den es bei seiner Suche nach Flüssiggas und Wasserstoff bis nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate verschlug. Amnesty International spricht in einem aktuellen Bericht davon, dass in Katar Gastarbeiter zum Teil unter Bedingungen leiden, die an Zwangsarbeit grenzen. Und in Saudi-Arabien, das neben seiner Ölförderung auch seine Gasproduktion ausweiten will, berichteten Staatsmedien im März von 81 Exekutionen an einem Tag. Wo also liegt die moralische Grenze für Handelsbeziehungen: bei Krieg, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, rigiden Abtreibungsverboten, verschmutzten Flüssen, der Todesstrafe?

Die aktuelle Debatte zeigt, wie schwierig es ist, eine Balance zwischen ethischen Ansprüchen und wirtschaftlichen Interessen zu finden. Deshalb müssen wir uns die Frage gefallen lassen, nach welchem Prinzip sich unsere Handelspolitik eigentlich langfristig ausrichten soll: Wirtschaftlichkeit oder Moral?

Lieferkettengesetze sind ein erster Schritt in Richtung einer ethisch geleiteten Handelspolitik. Deutschland und Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Australien haben Gesetze auf den Weg gebracht, die Unternehmen verpflichten, Menschenrechte bei der Produktion zu beachten. Bei uns tritt solch ein Gesetz am 1. Januar 2023 in Kraft, es wurde letztes Jahr beschlossen. Bis dato sollten sich Unternehmen freiwillig zu fairem Handel verpflichten. Dieses Experiment ging gründlich schief, über 80 Prozent der Firmen kamen ihren Sorgfaltspflichten nicht nach.

Jetzt will die EU nicht nur nachziehen, sondern es besser machen. Im Gegensatz zum deutschen Gesetz, dessen Entwurf meine Kollegin Frauke Ladleif seinerzeit enttäuscht kommentierte, fällt der Entwurf der EU-Kommission strenger aus.

Prinzipiell sollen die erfassten Unternehmen überprüfen, woher ihre zugelieferten Waren kommen, wie sie hergestellt wurden und welche Folgen damit für Mensch, Klima und Umwelt einhergehen. Das schließt nicht nur die direkten Lieferbetriebe, sondern die komplette Lieferkette ein – von den Rohstoffen bis zur Ware. Zudem ist eine Haftungsklausel vorgesehen, nach der Opfer leichter Zugang zu Gerichten haben. Auch ist ein Importverbot für Waren, die unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden, im Gespräch.

Derzeit wird der Kommissionsentwurf im Europäischen Parlament und Rat verhandelt. Während die Wirtschaft über den hohen Bürokratieaufwand stöhnt und Wettbewerbsverzerrungen befürchtet, geht es den Verfechtern von Umweltschutz und Menschenrechten nicht weit genug.

Greenpeace-Handelsexperte Jürgen Knirsch sagt: „Lieferkettengesetze gehen in die richtige Richtung, weil sie versuchen, die schlimmsten Auswüchse des Welthandels zu begrenzen, aber sie stellen seine Prinzipien nicht grundsätzlich in Frage.“ Krieg wie auch Pandemie hätten uns gezeigt, wie anfällig die globalen Lieferketten sind. Nun sei es Zeit, zu handeln: „Wir müssen den Welthandel vollkommen anders aufstellen, dafür braucht es einen radikalen Paradigmenwandel: Wirtschaftliche Erwägungen dürfen nicht mehr ausschlaggebend sein, sondern die Auswirkungen für Menschen, Arbeitsnormen, Klima und Umwelt müssen an erster Stelle stehen.”

Ein Weltmarkt, der durch Austausch und Fairness reguliert wird, ist ein utopischer Zukunftsblick. Genauso wie das Streben hin zu einem neuen Verständnis von Außenpolitik, wie es die Autorin Kristina Lunz fordert. Ginge es nach ihr, würden wir Krisen mit Verständigung und Inklusion lösen, statt mit Krieg und Aufrüstung. Autokratische Männer an der Spitze, die Aggression mit Stärke verwechseln, wären nur noch eine blasse Erinnerung vergangener Zeiten. Für das aktuelle Dilemma aber bleibt die nüchterne Erkenntnis: Maßnahmen wie Handelssanktionen können höchstens mittel- und langfristige Effekte haben. Den Krieg in der Ukraine stoppen sie nicht.

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Imagine

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Imagine there's no countries”, sang John Lennon 1971 in seiner stets unter Kitschverdacht stehenden Friedenshymne. Man stelle sich vor, keine Nationen mehr, für die man töten oder sterben müsste – das sei ja nicht schwer: „It isn’t hard to do.“ Doch. So schwer wie schon lange nicht. Heute, am 11. März, ist der 11. Jahrestag der Katastrophe von Fukushima. In der Ukraine kontrollieren russische Soldaten die Atomkraftwerke. Da stellt man sich ganz andere Dinge vor.

Vielleicht halten wir uns an Goethes „Faust – Der Tragödie Erster Teil“, als Faust Mephisto in seinem Studierzimmer vorfindet und ihn fragt, wer er ist. Er sei „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, antwortet der. So scheint es auch Putin momentan zu ergehen. Er erreicht das Gegenteil dessen, was er anstrebt. Denn erstens hat sein Eroberungsplan bislang nicht besonders gut funktioniert, und zweitens herrscht seltene Einigkeit in der NATO, der EU, zwischen USA und Europa, wo sich die Menschen geradezu überschlagen in ihrer Bereitschaft, Geflüchtete aus der Ukraine ohne Wenn und Aber aufzunehmen und ihnen zu helfen.

Und auch diese Botschaft ist nun bis in den letzten Winkel vorgedrungen: Wir müssen so schnell wie möglich raus aus den fossilen Energien und ihren Abhängigkeiten, nicht nur wegen des Klimas, sondern auch aus sicherheitspolitischen Gründen. 200 Milliarden Euro für Klimaschutz und Energiesicherheit will die Ampelkoalition bereitstellen, das ist diese Woche ein bisschen untergegangen.

Man stelle sich vor, nun würde auch noch jemand auftauchen, der Putin ungestraft folgenden Vorschlag unterbreiten dürfte: „Wladimir Wladimirowitsch! Sie werden dieses Jahr 70. Möchten Sie nicht in den wohlverdienten Ruhestand gehen?“ Gerhard Schröder soll doch gerade in Moskau sein, vielleicht wäre er der Richtige dafür. Putin könnte mit Sergej Shojgu (derzeit Verteidigungsminister) auf die Jagd gehen, nach Herzenslust reiten, tauchen, fischen oder Harley fahren. Er sollte bei dem Rückzugsangebot zugreifen, damit er nicht am Ende gar im niederländischen Scheveningen landet – dann aber nicht zum Badeurlaub im Luxushotel, sondern zu einem längeren Aufenthalt in einer 10,4 Quadratmeter kleinen Gefängniszelle.

Bitte verzeihen Sie den kleinen Ausflug in die Welt des blühenden Unsinns. Kaum in die Realität zurückgekehrt, fängt das Grübeln wieder an: 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr! Ist das viel oder wenig? Muss das sein, oder könnte man es einfach lassen? Ich kann mich leider nicht auf ein gefestigtes Weltbild berufen, das mir erlauben würde, diese erstaunliche Volte entweder mit grenzenlosem Enthusiasmus zu begrüßen oder mit ebenso grenzenloser Verachtung abzulehnen.

Man kann darüber lachen, wenn Gewehre nicht schießen, Panzer nicht fahren und Bundeswehrangehörige sich Ferngläser bei Tchibo beschaffen, weil es bei der Truppe keine gibt, aber eigentlich ist das nicht lustig. Man stiege doch auch nicht gern in ein Auto mit kaputten Bremsen oder auf ein Fahrrad ohne Sattel. Vielleicht haben sich viele gedacht, die Rolle der Bundeswehr solle sich für alle Zeiten auf das Schleppen von Sandsäcken und das Aushelfen im Gesundheitsamt beschränken. Soviel ich weiß, hat sie aber die Aufgabe, das Land zu verteidigen, also uns alle. Unnötig? Seit dem 24. Februar können einem da Zweifel kommen.

Man stelle sich vor, wir würden überfallen, beschossen, belagert. In diesem Fall wäre ich sehr schnell sehr tot. Ich bin weder jung noch gesund und zum Überleben auf Zivilisation und medizinische Versorgung angewiesen. Fliehen wäre unmöglich, wohin auch. Es wäre mir ganz angenehm, wenn dann gut ausgebildete und ausgerüstete Leute mich verteidigen würden, denn ich selbst wäre dazu nicht in der Lage. Aber es sieht schlecht aus mit der Verteidigungsfähigkeit, ebenso mit dem Zivilschutz: Es gibt bei uns noch nicht einmal mehr Schutzräume. Brauchte man ja nicht mehr.

Gar keine Frage, verhandeln ist immer die bessere Option, auch wenn die ersten Versuche nicht gerade Anlass zu übertriebener Hoffnung geben. „Man muss den Punkt lokalisieren, der für beide Seiten eine Verständigung ermöglicht“, sagt Alexander Kluge. Es wird nicht leicht sein, den zu finden. Wenn es in dieser Zeit Heldinnen und Helden gibt, dann zählen für mich auch diejenigen dazu, die immer wieder zum Hörer greifen oder sich zu Beratungen treffen und nicht aufgeben. Weil sie wissen, dass es auf der Welt genau eine ganz und gar alternativlose Sache gibt: Frieden.

Das findet auch der Hamburger Verkehrsverbund HVV. An vielen Haltestellen gibt es elektronische Displays. Oben wird das Fahrziel angezeigt, unten die Minuten runtergezählt, bis der Bus oder die Bahn kommt, in der Mitte ist Platz für andere Botschaften. „Stoppt den Krieg!“, stand da letzte Woche, und darunter: „in 1 Minute“.

Imagine.

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