Minister als Schaffner

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für all jene, die zunehmend allergisch auf Formulierungen wie „besorgte Bürger“ oder „schweigende Mehrheit“ reagieren, die so gern angeführt werden, wenn es mal wieder darum geht, eine Art „AfD light“-Politik gegen Ausländer, Ärmere, Klima- oder Umweltschutz zu rechtfertigen, waren die vergangenen Tage in Deutschland eine echte Offenbarung. Erstaunlich viele Meinungsmacher:innen in Medien und Politik stellten erstaunt fest, dass es sich bei der „schweigenden Mehrheit“, von der sie immer sprechen, wohl eher um eine ziemlich laute Minderheit handelt. Aufgerüttelt durch die Correctiv-Enthüllungen zu den Deportationsfantasien von Neonazis, der AfD bis hin zum rechten Rand der Union, demonstrieren täglich Zehntausende, manchmal Hunderttausende, dass sie keine Lust haben, Werte wie Vielfalt, Toleranz und Solidarität kampflos aufzugeben. Dem Diktat der schlechten Laune und des Hasses setzen die vielen, gesellschaftlich erfreulich breit aufgestellten Demo-Bündnisse von Aachen bis Zwickau eine eher zukunftszugewandte Weltsicht entgegen. Falls auch Sie dieses Wochenende wieder mit dabei sein wollen, finden Sie hier eine Zusammenstellung der angemeldeten Kundgebungen. Wir sehen uns!

Falls Sie nicht direkt an einem dieser Orte wohnen, könnte es allerdings mit der Anreise schwierig werden. Jedenfalls, wenn Sie auf die Bahn vertrauen. Nicht dass Sie durcheinander kommen: Diesmal ist es nicht die marode Infrastruktur mit der nächsten Großbaustelle, die für Verspätungen und Zugausfälle sorgt. Es sind wieder einmal die Lokführer mit ihrem – Moment, ich zähle mal… – vierten Streik in der aktuellen Verhandlungsrunde. Es tut mir immer ein bisschen weh, wenn ich in der Berichterstattung „Lokführergewerkschaft“ höre, denn das Wort „Gewerkschaft“ passt eher zur im DGB organisierten „Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)“ mit ihrer Viertelmillion Mitgliedern. Die GDL dagegen verstand sich ursprünglich eher als eine Art Funktionselite nach Art der Pilotenvereinigung Cockpit. Auch erinnert ihr Vorsitzender Claus Weselsky, der sich dem konservativen Flügel der sächsischen CDU zurechnet und mit wütenden Attacken auf den angeblichen „Schmuddeljournalismus“ gern mal nach rechtsaußen blinkt, nicht gerade an einen Arbeiterführer. Und doch teile ich als leidenschaftlicher Bahnfahrer seine wütende Analyse, dass die Lokführer „in einem kaputtgesparten, maroden System“ Dienst tun müssen. Ganz so wie die anderen hunderttausenden großartigen Bahn-Mitarbeitenden auch, die täglich Widrigkeiten trotzen müssen, für die sie nichts können. 

Für mich ergibt sich aus dem Dauerärger um die Bahn, der in den kommenden Jahren für Bahn-Schaffende und -Kund:innen eher noch größer werden wird, eines der ungeklärten politischen Rätsel unserer Zeit. Warum nur hat niemand im politischen Berlin Ambitionen, die Bahnkatastrophe einmal grundsätzlich aufzuklären? Ich verspreche hiermit feierlich, mich bei der kommenden Bundestagswahl für die Partei zu entscheiden, die genau zu dieser Frage den längst überfälligen Untersuchungsausschuss im Bundestag beantragt und hoffentlich auch durchsetzt. Die Wiedersehensfreude hält sich bei mir zwar in überschaubaren Grenzen, aber ich möchte sie trotzdem alle gern noch einmal live erleben: Die ehemaligen Bahnmanager, die von Börsengängen träumten und Sparrunden zelebrierten, und, vor allem, die früheren Verkehrsminister – seit 2009 ausschließlich in der CSU –, die sich in ihren jeweiligen Amtszeiten darauf konzentriert hatten, den bayrischen Raum mit Fern- und Umgehungsstraßen zuzupflastern, die jeden neuen Autobahnkilometer bejubelten wie einen Meisterschaftsgewinn des FC Bayern und die das Fachpersonal, das Schienennetz, die Ausbildungsplätze und die technische Infrastruktur mit einer Brachialgewalt abbauten, als bräuchten sie die Flächen, um dort weitere neue Autobahnen bauen zu können.

Ich möchte über all das, über jede einzelne Entscheidung, die zum Abbau von Stellwerken, zur Stilllegung von Ersatzgleisen oder Reparaturbahnhöfen führte, sehr gern einen viele tausend Seiten langen Bericht lesen, der für die Nachwelt festhält, wie neoliberale Ideologie, Ignoranz, Autowahn und schiere Unkenntnis heute die Zukunftsfähigkeit eines ganzen Landes bedrohen und wie viele Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung durch die zahllosen Ausfälle und Verspätungen inzwischen verloren gegangen sind. Und dann möchte ich sie alle bis zum Eintritt ins Pensionsalter am liebsten nur noch in Schaffneruniformen sehen. Natürlich auf den meist befahrenen, dauerverspäteten Bahnstrecken, um den nicht mal mehr wütenden, sondern nur noch resignierten Kundinnen und Kunden in Ruhe zu erklären, was sie sich da eigentlich in ihrer jeweiligen Amtszeit gedacht haben. Beziehungsweise: Warum nicht.

Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende!

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Unser Redakteur Fred Grimm freut sich über Menschenaufläufe, aber nicht auf dem Bahnhof
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Rutschpartie

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sieht man von der höchstwahrscheinlich von der Klimakrise mitverursachten Hochwasserlage ab, legt das Jahr 2024 einen ziemlich glatten Start hin, jedenfalls auf Straßen, Geh- und Fahrradwegen. Huch, Schnee und Eis! Wo sich niemand fürs Räumen oder Streuen zuständig fühlt, entstehen fiese Buckelpisten. Ohne Spikes unter den Schuhen wird es schwierig.

Um meiner Räumpflicht Genüge zu tun, habe ich zum Auftakt ein paar gute Nachrichten aus dem Jahr 2023 zusammengefegt: Einen Booster für Erneuerbare, einen bereits erreichten oder bevorstehenden Wendepunkt bei den Emissionen aus der Energieerzeugung, Fortschritte bei der Bekämpfung von Plastikverschmutzung, ein Abkommen zum Schutz der Ozeane, das und mehr finden Sie hier.

In Deutschland stammte die Energie zur Stromerzeugung erstmals zu mehr als der Hälfte, 56 Prozent laut Bundesnetzagentur, aus Wind, Sonne und Wasser. Portugal schaffte es letztes Jahr, das ganze Land sechs Tage am Stück mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Und apropos Hochwasser: Das Konzept der Schwammstadt greift immer mehr um sich, wie dieses Beispiel aus China zeigt.

Weil aber 2023 auch das heißeste Jahr aller Zeiten war und die Erde zum ersten Mal an der magischen 1,5-Grad-Grenze gekratzt hat, wobei es nicht bleiben wird, müssen wir uns leider auch auf Verluste einstellen. Gletscher, Permafrost, Skigebiete – für die wird es eng.

Die Niederlande, schreibt der US-Autor Benjamin Moser, werden sich wohl mit dem endgültigen Aus für eine alte Tradition abfinden müssen, die Elfstedentocht. Diese Elfstädtetour, ein Langstreckenrennen über fast 200 Kilometer auf Natureis in der Provinz Friesland, gibt es offiziell seit 1909, inoffiziell gab es sie bereits im 18. und 19. Jahrhundert. Sie führt über zugefrorene Kanäle, Flüsse und Seen und ist ein kulturelles Großereignis mit Volksfestcharakter, nicht nur für Friesland.

Zuletzt wurde sie am 4. Januar 1997 ausgerichtet. Zwar gab es auch früher schon mehrjährige Pausen zwischen den Touren, denn natürlich friert es nicht jeden Winter so kräftig und anhaltend, dass das Eis wie vorgeschrieben auf der gesamten Strecke fünfzehn Zentimeter dick ist.

Über ein Vierteljahrhundert ohne Elfstedentocht, das ist allerdings außergewöhnlich – oder vielleicht auch nicht, so Moser, der seit über zwanzig Jahren in den Niederlanden lebt. Niemand traue sich jedoch, öffentlich zu verkünden, dass es ein Abschied für immer sein könnte. Als wäre jemand vor vielen Jahren mit einem Kleinflugzeug abgestürzt und nie gefunden worden, und die Verwandten hofften immer noch, dass die vermisste Person plötzlich wieder auftaucht.

So ähnlich sei es auch mit dem Verschwinden einer vertrauten Lebensweise: dem, was man sich gemeinhin unter Landwirtschaft vorstellt. Denn längst sei alles Beschauliche und Idyllische daraus verschwunden (geschildert auch in dem überaus lesenswerten Buch „Wie Gott verschwand aus Jorwerd“ von Geert Mak). Landwirtschaft sei ein weitgehend hochindustrialisiertes und -subventioniertes Geschäft. Ob die Trauer über das Ende der Elfstedentocht die Erkenntnis befördern könnte, dass Inaktivität beim Klimaschutz ihren Preis hat?, fragt sich der Autor.

Mag sein. Aber der bäuerliche Frust sitzt sehr tief. Hierzulande reicht er weit zurück in die Vorampelzeit, und der korrekte Adressat wäre Brüssel, denn dort wird die Landwirtschaftspolitik gemacht. Andererseits bezieht mancher Hof bis zur Hälfte seines Jahreseinkommens aus dem Subventionstopf, der ein Drittel des EU-Gesamtbudgets verschlingt.

Im Grunde ein zweifelhaftes Geschäftsmodell, und doch reicht das Geld offenbar nicht, um alle Vorgaben zu erfüllen. Preisdiktate von Molkereien, Schlachtbetrieben und Handel, explodierende Boden- und steigende Energiepreise, Inflation, Auflagen, Bürokratie – Bäuerinnen und Bauern sehen sich vielen Zwängen unterworfen und finden, wie sie sagen, kaum Gehör bei der Politik.

Außer natürlich bei der AfD und anderen Rechtsextremen, die frohgemut auf der Protestwelle surfen. Dabei kommen dann Sachen raus wie Schilder mit einer Ampel am Galgen oder die Fährblockade in Schlüttsiel – der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck muss derzeit als Watschenmann für alles herhalten, was irgendwie schiefläuft. „Es wird sichtbar, dass in den letzten Jahren etwas ins Rutschen geraten ist, was den legitimen demokratischen Protest und die freie Meinungsäußerung entgrenzt“, sagte der Minister in einem in sozialen Medien veröffentlichten Video. Wohl wahr. Gegen diese Art von fiesen Buckelpisten helfen auch keine Spikes.

Wer nun aber glaubt, mit der AfD würde irgendwas besser, müsste eigentlich auch von der Existenz von Einhörnern überzeugt sein. Was dem Land unter einem AfD-Regime blühen könnte, zeigt das jüngst aufgedeckte Geheimtreffen von Menschen aus AfD-, Neonazi- und Unternehmenskreisen im letzten November nahe Potsdam: nichts weniger als millionenfache Deportationen, chemisch reiner Rassismus.

Da müssen sich viele landwirtschaftlichen Betriebe wohl schon mal Gedanken machen, wer dann die Knochenjobs der Saisonarbeiter auf den Gurkenfliegern, bei der Spargelernte oder der Weinlese übernehmen soll.

Wie es auch ganz anders gehen könnte in der Landwirtschaft, zeigt unsere vierteilige Multimedia-Reportage „Boden Burnout“.

Ich wünsche Ihnen ein entspanntes Wochenende ohne Bahnstreik, Treckerblockaden und Glatteis!

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Redakteurin Kerstin Eitner schlittert mit gemischten Gefühlen ins neue Jahr
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Die Weitermacher

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zum Jahresende ein Ratatouille aus Krieg, Terror, Klimakrise, Ampelstreit, Rechtspopulismus? Und zum Schluss sitzen alle mit Bauchgrimmen unter der Tanne zu den Klängen von „Komm, wir geben auf“ (ein Song des Kabarettisten Tobias Mann, hier zu sehen und zu hören ab ca. Minute 7)?

Nichts da. Hier kommen als Stimmungsaufheller ein paar Unverdrossene aus Mali. Da war doch was? Genau: Im Sommer 2022 schrieb ich schon einmal über ein sehr spezielles Projekt in Timbuktu. Es ging um Postkarten, Kalligrafien und ein paar andere Dinge, die man beim wohl einzigen Online-Shop im Sahel bestellen und sich auf höchst abenteuerlichem Wege schicken lassen kann.

Wenn irgendwo in der Welt ein Artikel über das Projekt erschienen ist, geht in der Regel ein Schwall von Bestellungen ein – und im Postamt in Timbuktu werden mal wieder die Briefmarken knapp. Oder es sind schlicht keine mehr da. Nicht selten fallen die Flüge zwischen Timbuktu und Bamako aus. Oder es sind wegen eines Embargos der ECOWAS gleich alle Grenzen geschlossen.

Dieses Frühjahr hat der Urheber der Idee, der US-Amerikaner Phil Paoletta, dem Land und seinem Hostel in Bamako mit dem schönen Namen „The Sleeping Camel“ (Das schlafende Kamel) schweren Herzens den Rücken gekehrt und ist mit seiner Familie nach Senegal gezogen. Aber er, sein Freund Ali Nialy in Timbuktu und alle anderen an dem Projekt Beteiligten machen trotz der erschwerten Bedingungen weiter.

Nach dem bislang letzten Putsch 2021 hat sich die Situation vor allem für die Bevölkerung weiter verschlechtert. Es gibt kaum Jobs, Touristen bleiben weg, alles wird teurer. Nicht nur die in Mali verhassten französischen Truppen sind seit August 2022 weg. Diesen Sommer forderte die Junta auch alle anderen an der UN-Mission MINUSMA Beteiligten auf, das Land zu verlassen, darunter auch Einsatzkräfte der Bundeswehr.

Einfach war es für die Leute in Timbuktu und Bamako ja ohnehin nie, aber hinschmeißen? Kommt nicht infrage, denn: „Einem Dutzend Familien wird eine Rettungsleine zugeworfen, und Tausende von Dollars fließen in die Wirtschaft Timbuktus. Einiges davon wird gespart, ein Großteil aber für den täglichen Bedarf ausgegeben. Die Frauen, die takula (Fladenbrot), Gemüse und Fisch aus dem Niger-Fluss verkaufen, die Läden mit Milchpulver, Tee und Seife, die Stoffhändler, sie alle verdienen daran“, schreibt Phil Paoletta in seinem Newsletter.

Und siehe da, der Durchhaltewillen zahlt sich aus, meldet er im Dezember. Jetzt läuft die Sache mit den Postkarten nämlich über die senegalesische Hauptstadt Dakar. Sie werden

- handgeschrieben, abgestempelt und frankiert in Timbuktu;
- per Luftfracht nach Bamako befördert (wenn es endgültig keine UN-Flüge mehr gibt, will die Fluggesellschaft Sky Mali die Strecke wieder bedienen – bitte Daumen drücken);
- in Bamako mit dem Motorrad zu einer Busstation gebracht;
- 1170 Kilometer mit dem Bus nach Mbour im Westen des Senegal expediert;
- per Taxi bei Phil Paoletta in Somone südlich von Dakar abgeliefert;
- der nimmt sodann den Zug nach Dakar und geht dort vom Bahnhof aus zu Fuß zum Postamt, nach seinem Bekunden eines der weltbesten: Er habe in weniger als zehn Tagen Rückmeldungen von Leuten bekommen, bei denen Karten eingetroffen waren – absoluter Rekord.

Wer mit dem Gedanken spielt, eine Bestellung aufzugeben, kann also nicht nur in näherer Zukunft mit weitgereister Post rechnen, sondern tut auch noch etwas Gutes, egal zu welcher Jahreszeit.

Bevor das Jahr 2023 nun aber zu Ende geht, schauen Sie doch noch mal in unsere Multimedia-Reportage zum Thema Boden. Teil 3 – Grüne Revolution 2.0 – ist ab morgen online.

Ich wünsche uns allen geruhsame Feiertage und einen guten Start ins Jahr 2024!

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Redakteurin Kerstin Eitner bewundert Menschen, die trotz Schwierigkeiten nicht aufgeben
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Utopie der reinen Vernunft

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in der Redaktion habe ich den Ruf, die Dinge und auch die Menschen tendenziell zu skeptisch zu sehen. Mag sein, dass das stimmt. Es ist wohl mein Naturell. Ich denke mir immer: Das muss es auch geben in einem Team. Für den sehr, sehr notwendigen Optimismus dürfen sich gern andere zuständig fühlen.

Dabei möchte ich zu meiner Verteidigung sagen, dass ich keine Misanthropin bin. Im Gegenteil. Gestern Abend war ich in der Elbphilharmonie. Das ist dieser ziemlich auffällige Konzertbau in Hamburg, der während seiner Bauphase aus Kostengründen hochumstritten war und seit seiner Eröffnung heiß geliebt wird. Auch von mir. Das Orchester spielte zuerst Beethovens Klavierkonzert Nummer 5 und dann Mozarts „Jupiter“-Sinfonie. Und ich war wie immer zu solchen Gelegenheiten tief bewegt. Gut zweitausend Menschen hatten sich an diesem dunklen Winterabend auf den Weg gemacht, um mehr als zweihundert Jahre alte Musik live zu hören. Aus keinem anderen Grund, als dass sie schön ist. Was für ein Aufwand, welch komplexes Vergnügen!

Vielleicht sind wir Menschen die einzige Spezies im Universum, die Sinfonien schreibt. Vielleicht sind wir auch die einzige Art, die Liebe in Gedichte fasst, die im Katastrophenfall zu planetenweiter Nothilfe fähig sein kann, die einzige, die weltberühmte Gemälde erschafft – und diese wiederum gelegentlich mit Tomatensuppe besprenkelt. Die einzige, die Bauwerke wie das Taj Mahal, den Eiffelturm oder die Elbphilharmonie errichtet hat. Wenn ich über die menschliche Kultur und Zivilisation nachdenke, empfinde ich Wärme und Verbundenheit. Aber in die Zuneigung zu meinen Mitmenschen schleicht sich manchmal auch Traurigkeit. Ich finde, es wäre schade um uns.

Das bringt mich zu meiner anderen Seite, meiner (hoffentlich zu) negativen Sicht auf die Welt. Mehr als 90.000 Menschen hatten sich dieses Jahr auf der 28. UN-Weltklimakonferenz in Dubai versammelt. So viele wie nie zuvor. In den Morgenstunden des 13. Dezember, am Mittwoch, verständigten sich die Staaten nach, wie man so sagt, zähem Ringen auf ein Abschlussdokument. Darin enthalten ist nach 27 UN-Klimakonferenzen erstmals ein „Übergang weg von“ fossilen Brennstoffen wie Kohle, Öl und Gas, um auf „gerechte, geordnete und ausgewogene Weise“ und „im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen bis 2050 ein Netto-Null-Ziel zu erreichen“. Das kleine, aber entscheidende Wörtchen „Ausstieg“ kommt in dem Dokument nicht vor.

Ich möchte den Fachleuten gern glauben, die nun auch das Positive sehen. Ausgerechnet in den Vereinigten Arabischen Emiraten sei es gelungen, sich auf eine Formulierung zu einigen, die „als Ziel die Abkehr von fossilen Brennstoffen benennt“, schreibt etwa die ukrainische Klimaexpertin Olha Boiko. Sie erwähnt aber auch, dass Russlands Präsident Putin sich während der Konferenztage in Dubai aufhielt – nicht um mit den anderen Regierungen über das Klima zu sprechen, sondern um mit Mohammed bin Zayid Al Nahya, dem Präsidenten der Emirate, über fossile Brennstoffe zu verhandeln, genauer: über deren Förderung und den Handel damit.

Ganz sicher bin ich jetzt ungerecht den vielen Menschen gegenüber, die mehr als 14 Tage lang in Dubai wieder um um nicht weniger als die Zukunft der Welt gerungen haben. Aber ich finde diese kleine Anekdote vielsagend. Was nützt uns ein „Ziel der Abkehr“, während der Rubel rollt?

Das einzige, was mich angesichts der Faktenlage aufrichtet, sind wiederum Menschen. Es sind die Einzelnen, die graswurzelbewegt mit guten Ideen vorangehen. Etwa jene Menschen, die wir im Greenpeace Magazin in unserer Rubrik „Wegweiser“ vorstellen. Es sind aber auch junge Menschen, die mir Hoffnung geben. Der Schauspieler Jonathan Berlin zum Beispiel, der Anfang 2023 zusammen seiner Kollegin Luisa-Céline Gaffron eine Petition gegen die Räumung des Braunkohledorfes Lützerath initiiert hat. Er ist einer von fast dreißig Prominenten, die in unserer aktuellen Ausgabe über ihre Gefühle sprechen.

„Die Klimakrise verschiebt meinen kompletten Blick auf alles, was möglich ist und wofür es sich zu leben lohnt“, hat der 29-Jährige uns geschrieben. „Manchmal stelle ich mir vor, dass es da plötzlich den einen utopischen Gipfel gäbe, in dem alle politisch Verantwortlichen verstehen, umlenken und entschieden zu handeln beginnen. In meinem Tagtraum stelle ich mir dann vor, wie im News-Feed eine Nachricht aufploppt wie: ,Klimakrise ausgebremst – Wissenschaft erklärt 1,5-Grad-Ziel für eingehalten'.“

Ich schließe mich dieser Utopie der reinen Vernunft vollumfänglich an – und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

PS: Am Samstag erscheint der zweite Teil unserer Multimediareportage Boden Burnout: „Ausgelaugt“. Es lohnt, sich dafür Zeit zu nehmen!

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Redakteurin Katja Morgenthaler hadert mit dem Klimapapier von Dubai
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Intensivpatient Boden

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wussten Sie eigentlich, dass am Dienstag dieser Woche der Internationale Weltbodentag war wie jedes Jahr am 5. Dezember, und das schon seit 2002? Nein? Ich auch nicht. Neu war mir auch, dass in Deutschland aus diesem Anlass der „Boden des Jahres“ gekürt wird, und zwar sogar im Rahmen einer Festveranstaltung im Bundeslandwirtschaftsministerium. And the winner is: der Waldboden.

Und damit nicht genug: Am Mittwoch fand im Umweltbundesamt eine Tagung der Kommission Bodenschutz statt mit dem vielsagenden Titel „Bodengesundheit – wo stehen wir, reicht der Therapieansatz aus?“ Daraus schließe ich pfeilgerade, dass es mit ebendieser Gesundheit nicht zum Besten steht. Wofür auch der Titel des Impulsvortrags spricht: „Patientenakte Boden – die unterirdische Sprechstunde“. Immerhin, Expertinnen und Experten der Bodenheilkunde haben das Problem erkannt und diskutieren über die besten Behandlungsoptionen.

Es sieht nämlich leider so aus, als würde der Mensch die wertvolle Ressource nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinne mit Füßen treten. Tatsächlich muten wir dem Boden allerhand zu. Wir graben ihn auf, um ihm Rohstoffe zu entreißen, Müll aller Art in seinem Inneren zu deponieren oder Fundamente für Gebäude zu gießen. Wir versiegeln ihn mit ebendiesen Gebäuden, mit Straßen, Plätzen und anderer Infrastruktur. Wir bohren ihn an, um Wasser abzuzapfen. Wir pflügen, verdichten und düngen ihn, duschen ihn mit Gift und Gülle und machen so unzähligen Bodenorganismen den Garaus. Wir nutzen ihn als End- oder Langzeitzwischenlager für radioaktive Substanzen, Landminen und allerhand Chemiezeugs. Wir legen Moore trocken und holzen Auwälder ab. Auch die Klimaerwärmung setzt dem Boden zu.

Das mag er gar nicht. Deshalb reagiert er mitunter bockig, wird hart, rissig und unfruchtbar, weigert sich, bei Starkregen Wasser versickern zu lassen, schickt Staub- und Sandstürme, verbündet sich mit Asphalt und Beton und macht ordentlich Hitzestress. Durch das Abtauen von Gletschern werden Bergregionen instabil, es kommt zu Erdrutschen und Muren. Das Schmelzen von Permafrostböden wiederum kann Bakterien, Pilze, Viren oder Sporen freisetzen, die für Mensch und Tier gefährlich sind, wie sich etwa 2016 in Sibirien bei einem Milzbrandausbruch gezeigt hat. Außerdem werden Kohlendioxid und Methan frei, die ihrerseits das Klima weiter aufheizen.

Dabei brauchen wir die Böden als wichtige Kohlenstoffsenke – als CO2-Speicher werden sie nur noch von den Weltmeeren übertroffen. Und natürlich als Grundlage für die Ernährung. Man stelle sich vor: „In einer Handvoll gesunder Erde gibt es mehr Lebewesen als Menschen auf der Welt.“ Ohne diese Organismen keine fruchtbaren Böden, ohne fruchtbare Böden keine Ernteerträge. Aber gerade die sogenannte konventionelle Landwirtschaft beschleunigt die Degradation. „Eine Landwirtschaft, die den Boden ab- statt aufbaut, steuert auf eine bodenlose Zukunft zu.“

Die Zitate im letzten Absatz stammen aus der grandiosen multimedialen Reportage „Boden Burnout“, deren erster Teil seit Dienstag auf unserer Website steht und die ich Ihnen sehr ans Herz lege. Die Teile zwei und drei erscheinen am 16. und am 23. Dezember und der letzte Teil am 1. Januar 2024. Es geht darin nicht nur um die Art und Weise, wie wir unsere Lebensmittel erzeugen, sondern auch um Alternativen.

Das Wildtier des Jahres 2024 ist übrigens der Igel. Und der lebt wo? Genau: auf dem Boden. Wenn Sie Igel mögen, sollten Sie nett zu seinem Lebensraum sein.

Ich wünsche Ihnen ein Wochenende mit guter Bodenhaftung, trotz Schnee oder Matsch.

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Redakteurin Kerstin Eitner wünscht der angeschlagenen Ressource zügige Genesung
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Gemischte Gefühle

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gestern hat sie nun begonnen – die 28. Weltklimakonferenz im Öl-Emirat Dubai. Geleitet ausgerechnet von Sultan Ahmed al-Jaber, der auch dem staatlichen Ölkonzern der Vereinigten Arabischen Emirate, Adnoc, vorsteht.

Ein Ölboss als Chefverhandler der COP? Nichts ist unmöglich. Und dieser „personifizierte Interessenkonflikt“, wie die Kolleginnen und Kollegen vom Spiegel al-Jaber nennen, hat Anfang der Woche bereits einen Skandal produziert. Die BBC und das Netzwerk Center for Climate Reporting berichteten über geleakte Dokumente, die darauf hindeuten, dass al-Jabers Team in den vergangenen Monaten Vorbereitungstreffen mit fast dreißig Regierungen auch zur Erörterung möglicher Gas- und Öldeals nutzen wollte. Wie oft fossile Projekte tatsächlich zur Sprache kamen, war nicht zu recherchieren. Und Al-Jaber wies die Vorwürfe entschieden zurück.

Was löst diese Nachricht in Ihnen aus? Wut? Frust? Befürchtungen?

Eine gute Nachricht gab es zu Beginn der Konferenz gestern überraschend dennoch: Deutschland und die Vereinigten Arabischen Emirate sagten je 100 Millionen Dollar für den Ausgleich von Klimaschäden in besonders verwundbaren Staaten zu. Andere Länder schlossen sich an. Damit fließt erstmals Geld in den im vergangenen Jahr beschlossenen Katastrophenfonds und er wird arbeitsfähig. Ein Durchbruch!

Und was empfinden Sie nun angesichts dieser Nachricht? Vorsichtige Hoffnung vielleicht?

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Für mich ist das Leben in Zeiten der Klimakrise eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Je nach Tagesform und Nachrichtenlage bewege ich mich zwischen vagem Hoffen und verzweifeltem Bangen, zwischen Zuversicht und Angst. Angesichts der Größe des Problems und des sich rapide schließenden Zeitfensters überwiegt aber – ganz klar – die Sorge.

Bis vor wenigen Jahren waren Begriffe wie „Klimaangst“ und „Ökotrauer“ noch eher exotisch. Und wer dergleichen fühlte, fand sich selbst vielleicht ein wenig übersensibel und sprach nicht unbedingt offen darüber. Mit den sichtbaren Spuren der Krisen von Natur und Klima aber, mit dem Sterben der Arten und der Verödung von Landschaften, mit dem Wachsen der Plastikberge und dem Schrumpfen des Meereises, mit dem Austrocknen der Flüsse und dem Tod der Fichten, mit all dem vermehrt sich auch das Unbehagen daran. Die echte Welt da draußen – die „richtige“ Realität jenseits unserer Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme, jenseits aller Ideologien und virtuellen Räume – sie ist nicht länger stabil.

Studien weltweit zeigen, dass insbesondere Kinder und junge Menschen stark unter der Unsicherheit leiden. Und eine aktuelle Google-Auswertung für die britischen BBC verzeichnet, dass es Suchanfragen rings um die englischen Begriffe „climate anxiety“ und „eco-anxiety“, Klima- und Ökoangst, in den ersten zehn Monaten dieses Jahres 27-mal häufiger gab als im gleichen Zeitraum 2017.

Klimaangst – diskreditierend von bestimmten Kreisen immer noch mit dem Unwort des Jahres 2019 „Klimahysterie“ verhöhnt –, ist das wahrscheinlich prominenteste „Ökogefühl“. Aber vermutlich ist Angst medial überrepräsentiert. Lea Dohm, Mitgründerin der Psychologists for Future, erklärte mir kürzlich, dass auch Wut ein sehr häufiges Klimagefühl sei. Paradoxerweise finde ich das fast schon beruhigend. Denn Angst lähmt, Wut aber reimt sich wohl nicht umsonst auf Mut.

Wir vom Greenpeace Magazin fanden es jedenfalls höchste Zeit, uns ausführlich mit dem Thema Ökogefühle zu beschäftigen. In unserer neuen Ausgabe, die ab sofort für Sie im gut sortierten Bahnhofskiosk liegt und auch hier bestellt werden kann, erzählen viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von ihren Gefühlen im Angesicht der Krise. Es geht um Wut, Panik, Sorge und – ja, natürlich auch Hoffnung. Die Sängerin Zoe Wees zum Beispiel ist sauer, der Schauspieler Wilson Gonzalez Ochsenknecht traurig und die Schriftstellerin Cornelia Funke engagiert.

Wir haben außerdem Fotografinnen und Fotografen dazu eingeladen, besondere Glücksmomente in der Natur mit uns zu teilen. In einem Essay ergründe ich, was genau es mit mir macht, ein Stück geliebter Natur zu verlieren. Meine Kollegen Wolfgang Hassenstein und Thomas Merten sprechen mit dem Politikwissenschaftler Jérémie Gagné darüber, warum die Klimabewegung an Rückhalt einbüßt und was jetzt gegen die Spaltung der Gesellschaft helfen könnte. Ihre Frage: „Woher kommt der Hass, Herr Gagné?“ 

Wir dokumentieren die ökologische Seelenlage der Nation in Zahlen, erklären die spirituelle Verbindung indigener Menschen zur Natur und berichten, wie es sich für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anfühlt, jeden Tag mit beunruhigenden Daten umzugehen. Zu guter Letzt geben wir Tipps, was gegen die Ohnmacht hilft und sind gespannt auf ein Gedankenexperiment, das wir mit Ihnen vorhaben: Es handelt sich um eine kleine Zeitreise. Mehr dazu – natürlich – im neuen Greenpeace Magazin.

Manchmal ist es ja nicht so einfach, über Gefühle zu reden – oder auch nur zu lesen. Wem dieses Thema suspekt ist, der oder die kann einfach weiter blättern in unserem „Teil 2“. Dort findet sich diesmal unter anderem eine Reportage über den Export in Deutschland längst verbotener Pestizide nach Afrika, eine praktische Anleitung zum Reisen mit dem Nachtzug, einen bildgewaltigen Ausflug ins geheime Reich der Pilze und das Porträt eines jungen Philosophieprofessors aus Japan, der als Öko-Marxist populär wurde.

Ich wünsche Ihnen ein möglichst sorgenfreies Wochenende!

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Alles ist erleuchtet

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viele Menschen haben aus jahreszeitlichen Gründen und sicher auch wegen der Weltlage ein großes Bedürfnis nach Licht, Wärme und Gemütlichkeit, nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern auch draußen. Wie anders ist es zu erklären, dass das Gastgewerbe-Magazin Tipps „für einen stimmungsvollen Außenbereich im Winter“ gibt, der Heizpilz trotz regionaler Verbote nicht totzukriegen ist und manche Gastronomen kleine hell erstrahlende Pavillons auf ihre Terrassen stellen, von wegen Romantik und so?

Die Advents- und Weihnachtszeit, trotz gegenläufiger Indizien gern als „besinnliche“ oder „stille“ Zeit bezeichnet, scheint dafür ganz besonders geeignet. Großer Beliebtheit erfreuen sich seit einigen Jahren Lichterparks, jetzt auch im Hamburger Loki-Schmidt-Garten, erfahre ich am 18. November von der dpa.

Der Loki-Schmidt-Garten, der Botanische Garten, ist eine vor allem von Frühjahr bis Herbst viel besuchte grüne Oase im Hamburger Westen, Eintritt frei. Nun wird das Gelände  täglich ab 16.30 Uhr zur funkelnden Eventfläche mit akustischer Untermalung, Eintritt ab 16,50 Euro für Erwachsene. Speisen und Getränke (auch Glühwein, na klar) sind nicht im Preis inbegriffen. Bis Mitte Januar geht die Show, die es nicht nur in Hamburg, sondern auch in Berlin und weiteren deutschen Städten sowie in einigen anderen Ländern gibt. Alles „verantwortungsvoll und energiesparend“, wie der Veranstalter versichert.

Ob man so was toll, kitschig oder ein bisschen gaga findet, ist Ansichtssache. Insekten, Vögel oder Fledermäuse sollte man allerdings lieber nicht nach ihrer Meinung fragen. Die haben schon mit Straßenlaternen, angestrahlten Häuserwänden oder Werbeflächen genug Probleme. Dabei heißt es im Naturschutzgesetz, § 21, (1): „Eingriffe in die Insektenfauna durch künstliche Beleuchtung im Außenbereich sind zu vermeiden.“ Aber auch dem Feldhamster setzt neben Monokulturen und Klimawandel die Lichtverschmutzung zu.

Und nicht nur die. Diesen Mittwoch hat das EU-Parlament eine Senkung des Pestizideinsatzes abgelehnt, und letzte Woche kündigte die EU-Kommission eine Verlängerung der Zulassung für das Pflanzengift Glyphosat um weitere zehn Jahre an. Einem UN-Bericht zufolge eilt die Welt bei der Erderwärmung überdies auf die Drei-Grad-Marke zu. Dem Menschen ist all das ebenso wenig zuträglich. Ein Rückgang der Bestäuberinsekten etwa kommt unsereins nicht nur teuer zu stehen, sondern gefährdet auch die Gesundheit – mit potenziell sogar tödlichen Folgen.

Nur mag sich die Bevölkerung im reicheren Teil der Welt mehrheitlich gerade gar nicht gern mit Ackergiften, Artensterben, Klimakrise und anderem Gedöns beschäftigen. Lieber durch illuminierte Parks oder über Weihnachtsmärkte schlendern, schnell noch den Black Friday beziehungsweise die Black Week, auch da ist eine gewisse zeitliche Ausdehnung zu verzeichnen  ausnutzen und auf die Jagd nach Weihnachtsgeschenken gehen. (Wer das nicht will, kann sich natürlich auch verweigern.)

Nach dem Fest wird es bald Zeit, sich mit allerlei Feuerwerks- und Knallkörpern einzudecken, denn Silvester naht – ein Ereignis, das in der Tierwelt mindestens so beliebt ist wie winterliche Lightshows. Fragen Sie mal Hund, Katze, Pferd, Kuh oder irgendein Wildtier.

Doch halt: Umfragen zufolge mag etwa die Hälfte der Deutschen gar keine Böller und Raketen – und wäre sogar für ein Verbot(!) von privatem Feuerwerk. Polizei, Feuerwehr, Müllabfuhr, medizinischem Personal, Tier- und Umweltschutzorganisationen wäre das auch sehr recht. Die Innenministerin hätte es in der Hand, über eine Änderung der Sprengstoffverordnung ein solches Verbot deutschlandweit umzusetzen. Sonderlich wahrscheinlich ist das aber nicht, denn: Das gehört ja schließlich dazu, Ende der Diskussion.

Im Januar brauchen Mensch, Tier und Umwelt nach dieser so stillen und besinnlichen Zeit dann erst mal dringend Erholung. Ich fasse zusammen: Alles ist erleuchtet – wenn man vom Gehirn des Menschen mal absieht, wo es gelegentlich schon mal zappenduster sein kann.

Ob hell oder dunkel, ich wünsche Ihnen ein gutes und friedliches Wochenende!

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Redakteurin Kerstin Eitner hofft, dass es bald auch in vielen Köpfen hell werden möge
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Endlager Erde

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benutzen Sie Zahnseide oder eine Pfanne mit Antihaftbeschichtung, vielleicht zum Braten von Fischen und Meeresfrüchten? Holen Sie sich unterwegs öfter mal Pommes oder andere Snacks in vermeintlich umweltfreundlichen, beschichteten Pappverpackungen? Wandern Sie gern in geeignetem Schuhwerk und gut imprägnierter Outdoorkleidung? Über diese und viele andere Alltagsprodukte können PFAS in Ihren Körper gelangen, aber auch über die Lebensmittel auf Ihrem Teller, Trinkwasser, Staub und mancherorts mit der Umgebungsluft. Es ist zwar möglich, ihre Aufnahme zu verringern, aber es kostet einige Mühe.

PFAS ist die Abkürzung für per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen, eine im Wortsinn weltweit verbreitete Gruppe von Chemikalien. Die Großfamilie besteht aus Tausenden festen, flüssigen oder gasförmigen Verbindungen. Über Meeresströmungen, Luft und Regen werden sie buchstäblich bis in den letzten Winkel der Erde transportiert. Dass sie in so vielen verschiedenen Produkten verarbeitet werden, liegt an ihren guten Eigenschaften. Sie sind wasser-, fett- und schmutzabweisend, hitze- und druckbeständig, nicht mal Säure kann ihnen etwas anhaben. Kehrseite: Die extrem stabilen Ewigkeitschemikalien bauen sich in der Natur nicht ab, sondern bleiben über tausend Jahre in Böden, Grundwasser, Pflanzen und Tieren und selbst in dem Niederschlag, der über den Polregionen niedergeht.

Bei der Verteilung problematischer Substanzen auf dem gesamten Erdball hat die Menschheit, das muss man ihr lassen, ganze Arbeit geleistet (und tut das weiterhin unermüdlich). Auch das allgegenwärtige Mikroplastik, das in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen hat, landet ja keineswegs nur in Industriegebieten oder -staaten, sondern ist auch in eher menschenleeren Regionen wie Wüsten, Tiefsee, Hochgebirge und sogar auf dem Mount Everest zu finden.

Praktisch jeder Mensch auf dem Planeten hat PFAS im Blut, und das ist alles andere als harmlos. Sie schädigen Leber, Hormon- und Immunsystem, beeinträchtigen die Fortpflanzung, gefährden ungeborene Kinder im Mutterleib und stehen im Verdacht, Krebs zu erzeugen. Systematisch erfasst werden sie nicht, da ihre Gefährlichkeit angeblich erst seit Kurzem bekannt ist. Die US-Chemiefirma DuPont allerdings wusste das seit 1961, setzte ihre Teflonproduktion aber ungerührt fort, bis ein Viehfarmer und sein Anwalt die Firma 1998 verklagten. Es kam zu einem Vergleich. Die Geschichte wurde verfilmt unter dem Titel Dark Waters (Vergiftete Wahrheit). Mittlerweile wurden in den USA Tausende weiterer Klagen eingereicht.

In Deutschland sind mindestens 1500 Orte, es können auch mehr sein, mit PFAS belastet; gern in der Nähe von Industrieanlagen, Flughäfen oder Mülldeponien. Die Bestandsaufnahme verdanken wir Recherchen von SZ, NDR und WDR. Schauen Sie doch mal auf der interaktiven Karte, ob sich die Ewigkeitsgifte auch in Ihrer Nähe befinden. Die Chancen stehen gut. Ach so: Sanierung? Vergessen Sie’s. Das ist sehr kompliziert und astronomisch teuer. Selbstverständlich lehnt die Industrie es ab, sich an den Kosten zu beteiligen.

Bliebe also ein Verbot. Einzelstoffe wie PFOA und PFOS sind bereits verboten, also zwei von rund 10.000. Fünf europäische Länder unter Federführung von Deutschland und den Niederlanden wollen aber tatsächlich Produktion, Verwendung und Import von PFAS in der EU verbieten und haben der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) Anfang des Jahres einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt.

Geprüft, diskutiert und hoffentlich – vermutlich mit Ausnahmen und Übergangsfristen – verabschiedet sein wird das Verbot nicht vor 2025. Schaut man sich das Gezerre um die Abstimmung über eine Neuzulassung von Glyphosat an (die übrigens nächste Woche wieder auf der Tagesordnung steht), kann einem ein bisschen mulmig werden. Zumal Industrieverbände, etwa Autoindustrie, Maschinenbau sowie Elektro- und Digitalindustrie, schon warnen, dass ein generelles Verbot die Klimaziele gefährde. Die offenbar immer dann entdeckt werden, wenn es an das eigene Geschäftsmodell geht.

Stimmt schon, es gibt nicht für alle Anwendungen Alternativen. Noch nicht. Aber: Versuch macht klug. Bei Outdoorkleidung hat es auch geklappt.

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Redakteurin Kerstin Eitner findet Langlebigkeit bei Produkten gut, bei Chemiegiften nicht
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Was würden Sie tun?

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wahrscheinlich kennen Sie das Gefühl: Wenn es einen frühmorgens aus dem Schlaf reißt und im Kopf die ungeordneten Gedanken anfangen zu tanzen. Zu kurz war die Nacht bis dahin, um dem Gehirn Gelegenheit zu geben, alles zu sortieren. Stattdessen schieben sich die Bilder übereinander: Nachrichtensendungen, Erlebnisse vom Vortag, Erinnerungen, schöne wie schlimme; dazu Sorgen, Ängste. Immer mehr Deutsche schlafen schlecht, ergab eine gerade veröffentlichte Untersuchung der Barmer Ersatzkasse. Sechs Millionen Übermüdete sollen es sein, die sich nachts nicht mehr richtig erholen, und ich bin sicher, in diesen Tagen sind ein paar Hunderttausend dazu gekommen.

Wie soll man nachts auch klarkommen mit den täglichen Meldungen, die einem mit einem Gefühlsorchester allein lassen, das in voller Lautstärke spielt? Vergangene Woche schrieb an dieser Stelle meine Kollegin Kerstin Eitner, sie fühle sich nicht berufen, etwas zum Krieg im Nahen Osten zu schreiben und lieferte dann doch zwei kluge Zitate zum Thema. Auch ich würde es als anmaßend empfinden, Ihnen an dieser Stelle vermeintlich Allgemeingültiges zu verkünden, vor allem nicht als „die“ Stimme der Redaktion, in der es zum Glück viele unterschiedliche Perspektiven dazu gibt. Aber ich möchte das Durcheinander in meinem Kopf trotzdem kurz mit Ihnen teilen, einfach weil ich glaube, dass es einigen von Ihnen womöglich so geht wie mir.

Traumata

Wahrscheinlich gehören Sie nicht zu den Menschen, die sich Videos vom barbarischen Gemetzel der Hamas-Terroristen angesehen haben, ich kann es auch nicht empfehlen. Die Vorführung einer 43 Minuten langen Zusammenfassung vor der internationalen Presse durch die israelische Armee ließ einige der 150 anwesenden Journalistinnen und Journalisten in Tränen ausbrechen, anderen wurde übel. Die freiwilligen israelischen Helferinnen und Helfer, die in den Küchen der überfallenen Kibbuze, in den zerstörten Kinderzimmern, am Straßenrand oder auf den Feldern die Überreste der jüdischen Opfer bergen mussten, werden die Bilder ebenfalls nie vergessen. Auch mit den Hartgesottensten unter ihnen, die in Israel jahrelange Erfahrungen etwa mit dem Anblick der bei den vielen Sprengstoffattentaten von Hamas, Dschidhad & Co. zerfetzten Leichen gesammelt haben, um sie nach jüdischem Gebot möglichst vollständig bestatten zu können, macht es etwas, wenn sie den abgeschnittenen Kopf eines Säuglings in den Händen halten. 

Die Charta der Hamas, von der Umfragen zufolge kürzlich über fünfzig Prozent der Bewohner im Gaza oder Westjordanland eine positive Meinung haben, sieht nicht nur die Auslöschung Israels vor, sondern die der Juden auf der ganzen Welt. In ihr heißt es: „Die Stunde der Auferstehung wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn!’“

Die bei lebendigem Leib verbrannten Kinder, die aufgerissenen Bäuche der Schwangeren und Vergewaltigten, haben es nicht in die deutschen Abendnachrichten geschafft, in ganz Europa nicht, ein unauflösbares Dilemma, weil dieser Horror so nicht annähernd die nachhaltige Wucht entfalten kann wie die aktuellen Bilder aus Gaza. Dass von dort aus auch nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober bis heute regelmäßig Raketen auf die israelische Bevölkerung abgefeuert werden, wird, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Die – hoffentlich noch lebenden – über 200 jüdischen Geiseln, die jüngste neun Monate alt, die in den mit Waffen und Kämpfern vollgestopften Tunneln unterhalb von Moscheen, Wohnhäusern, Schulen und Krankenhäusern gefangen gehalten werden, sehen wir naturgemäß ebenfalls nicht. Stattdessen Abend für Abend vorwiegend die Zerstörungen durch israelische Angriffe auf die Stellungen der Hamas, die Tränen verzweifelter Mütter und blutende Kinder in Gaza City oder Al Nazlah – die oberirdischen Geiseln der terroristischen Herrscher. Als solche erleben sie schreckliche Zeiten und benötigen dringend humanitäre Hilfe. Die Hamas nimmt das Leiden der Schwächsten gern in Kauf. Die militärische Reaktion Israels, um endlich die jahrelangen Angriffe der Hamas zu stoppen, liefert zuverlässig die passenden Schreckensbilder. Sie fachen den schon vorher nicht nur in der arabischen Welt verbreiteten Judenhass immer wieder neu an.

Vorgeschichten

Umso trauriger zu erleben, wie sich auch eine Greta Thunberg indirekt mit der Mission der Hamas solidarisiert. Wenn sie sich mit „Free Palestine“-Plakaten zeigt und auf entsprechende Propagandaseiten verlinkt, macht sie sich letztlich die dortigen Forderungen zu eigen, das neue Palästina auch auf dem heutigen Staatsgebiet Israels zu errichten („From the River to the Sea...“). Man wüsste gern von ihr, was dann eigentlich aus den jetzt dort Lebenden werden soll. Dabei müssten der Zwanzigjährigen die jungen Tanzenden des von den Hamas-Barbaren gestürmten Supernova-Festivals („Free love and spirit, environmental preservation“) doch eigentlich tausendmal näher sein als die geistigen Jünger und Kostgänger der iranischen Islamisten. Die Hamas-Vorbilder lassen junge Mädchen auch schon mal totprügeln, wenn sie es wagen, ihre Haare zu zeigen. Schutz und Geld bekommt die Hamas auch von arabischen Diktaturen wie Katar, die ihren Reichtum ironischerweise der jahrzehntelangen Befeuerung der Erderhitzung verdanken und die gegen alle Proteste der weltweiten Klimaschutzbewegung den ungebremsten Ausbau fossiler Energien weiter vorantreiben. Wenigstens hat sich der deutsche Ableger von Fridays for Future umgehend von den Wortführern der internationalen Sektion distanziert („Wir sind solidarisch mit den Opfern der Gewalt der Hamas“). Man sehe auch das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, „insbesondere der Kinder“. Und sie haben so recht, wenn sie schreiben: „Unsere Herzen sind groß genug, all das gleichzeitig fühlen zu können.“

Bitter hingegen, wie UN-Generalsekretär Antonio Guterres, der für die Dringlichkeit der Klimakrise regelmäßig die richtigen Worte findet, ebenfalls unablässig vom „Kontext“ der Hamas-Untaten spricht, als gäbe es irgendeine Vorgeschichte, die deren Mordorgien rechtfertigen oder auch nur begründen könnte. Ein „Kontext“ übrigens, den er bei den Militäraktionen der israelischen Armee nicht herzustellen vermag, als läge nicht in der jahrhundertelangen Dauerverfolgung der Juden durch Pogrome, Massenmord und weltweite Terroranschläge der Schlüssel für das verzweifelte Vorgehen Israels. Die Bereitwilligkeit, mit der zunächst zahlreiche hoch geschätzte Medien von der Tagesschau über die New York Times bis zur Süddeutschen unter Verweis auf Quellen der Hamas das Propagandamärchen vom „israelischen Angriff“ auf das Al-Ahli-Hospital mit „hunderten Toten“ übernahmen, zeigt den verbreiteten Unwillen, sich aus den ewigen „Auge-um-Auge“-Erzählungen von der „Spirale der Gewalt“ zu lösen, die am Ende „beide Seiten“ auf die gleiche moralische Stufe stellt. 

Bürgerpflicht

Und dann sind da noch die wortgewaltigen Kulturkrieger der Rechten, die gern auf die antisemitischen Pro-Palästina-Demonstrierenden in Berlin-Neukölln eindreschen, aber keine Probleme mit den auf Querdenker-Kundgebungen stolz getragenen stilisierten Judensternen hatten. Oder wenn ein stellvertretender Ministerpräsident als Siebzehnjähriger Flugblätter mit sich herumtrug, in denen als ironisiertes Gewinnspiel ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ oder ein „Aufenthalt im Massengrab“ ausgelobt wurde. Und selbst, wenn es mal wirklich gut gemeint ist wie bei der viel zu schwach besuchten Berliner Solidaritätsdemonstration mit Israel, klingt eine Rede wie die von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier ungut in den Ohren. Er spricht im bleiernen Tonfall von der „Bürgerpflicht“, dem Judenhass entgegen zu treten – und rückt diese Herzenssache emotional damit ungewollt in die Nähe von Kehrwoche und Einkommenssteuerzahlung.

Irgendwann morgens zwischen 3:46 Uhr und 5:12 Uhr findet man sich so im Gedankennebel zwischen allen Stühlen wieder, dort, wo sich auch weite Teile der israelischen Linken und Friedensbewegung gerade sehen. Vergangene Woche veröffentlichte eine Gruppe von 75 prominenten Intellektuellen wie der Soziologin Eva Illouz oder dem Schriftsteller David Grossmann einen offenen Brief an ihre progressiven Freundinnen und Freunde in aller Welt: „Wir hätten nie gedacht, dass Menschen auf der Linken, die für Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlfahrt eintreten, eine solch extreme moralische Gefühllosigkeit und politische Rücksichtslosigkeit an den Tag legen würden.“ Wir alle müssen uns die Frage, die Matan, der israelische Schwager einer Freundin von mir, auf Instagram gestellt hat, gefallen lassen: „Was würden Sie tun?“ 

Ich finde keine Antwort, die mich gut schlafen lässt.

Ich wünsche Ihnen trotz allem ein gutes, erholsames, ausgeschlafenes Wochenende und sehne mich weiter nach Nachrichten, in denen keine Kinder mehr sterben und keine Eltern und Großeltern mehr weinen, egal, auf welcher Seite der Grenzen Israels.

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More Gore!

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nein, zum Terrorangriff der Hamas, dem Krieg in Israel, zu all dem Grauen und Leid werde ich mich nicht äußern. Dazu fühle mich nicht berufen. Allenfalls kann ich mich einer Haltung anschließen wie der Meron Mendels: „Ich unterscheide nicht zwischen einem toten Kind im Kibbuz oder in Gaza.“ Oder Daniel Barenboim beipflichten, der schreibt: „Genau jetzt müssen wir alle im Anderen den Menschen sehen.“ Ihnen und anderen Besonnenen möchte ich zuhören und nicht jenen Besoffenen, die nur zu gern auch dem Rest der Welt ihren hochprozentigen Hass verabreichen würden.

Wobei es derzeit gar nicht so einfach ist, sich auf Themen jenseits der Kriege und Konflikte auf ebendieser Welt zu konzentrieren. Wo lässt sich Zuflucht ohne Weltflucht und Aufmunterung jenseits von Glückskekssprüchen finden?

Zum einen in der Nachbarschaft: Polen hat ein neues Parlament gewählt, und wie es aussieht, geht die PiS-Ära dem Ende entgegen. Falls dieser Partei nicht noch ein paar üble Winkelzüge einfallen, was einige befürchten. Aber schließlich wird sie den Wechsel wohl nicht verhindern, sondern höchstens hinauszögern können. Ein Seufzer der Erleichterung geht durch Europa.

Zum anderen dringt unverhofft ein Lichtstreif ins Gemüt, als man im New Yorker auf ein Interview mit Al Gore stößt, dem einstigen demokratischen Vize- und späteren Beinah-Präsidenten der USA. Mit 537 umstrittenen Stimmen im US-Bundesstaat Florida unterlag er nach einem nervenzehrenden Monat mit Nachzählungen und Gerichtsverfahren aber George W. Bush.

Ein harter Schlag, aber Gore versank nicht in Trübsal. Der Mann ist Berufsoptimist, auch als heute 75-Jähriger. Muss er auch, denn schließlich ist er seit über dreißig Jahren als Klimaaktivist im Einsatz. Richtig berühmt wurde er als unermüdlicher Kämpfer gegen die Erderhitzung in dem Dokumentarfilm „An Inconvenient Truth“ (Eine unbequeme Wahrheit“) unter der Regie von Davis Guggenheim. 2007 bekam er dann den Friedensnobelpreis, zusammen mit dem Weltklimarat IPCC.

Man befinde sich, das sei wohl inzwischen klar, längst inmitten der Klimakrise, sagt er. Dabei wisse man ja, welchen Schalter man betätigen müsse, damit die Temperaturen auf der Erde in der relativ kurzen Zeitspanne von drei bis fünf Jahren wieder sinken: die Treibhausgasemissionen so weit reduzieren, dass diese keine Auswirkungen auf das Klima ausüben (Netto-Null-Emissionen). Dann könne sich die Atmosphäre in einigen Jahrzehnten wieder erholen.

Ja, wenn’s weiter nichts ist. Die Sache ist natürlich etwas komplizierter. Der erste Schritt wäre: das Verfeuern fossiler Brennstoffe stoppen, die Hauptursache für die Klimakrise. Was, so Gore, eben auch hieße, den Multis in die Parade zu fahren, die ökonomische in politische Macht verwandelt hätten – etwa durch Lobby-Aktivitäten und finanzielle Unterstützung von Wahlkampagnen (in den USA, wo stets die mit dem dicksten Finanzpolster die Wahl gewinnen, mehr als überall sonst).  

Gern mischen auch ehemalige Manager aus der fossilen Industrie in der Politik mit. Donald Trump machte Rex Tillerson, den einstigen Geschäftsführer des Ölgiganten ExxonMobil, zum Außenminister. Den nächsten Weltklimagipfel in den Vereinigten Arabischen Emiraten leitet Sultan al-Jaber, seines Zeichens Chef des staatlichen Ölkonzerns sowie im Nebenjob Industrieminister. Auch die EU hielt es für eine gute Idee, den früheren Shell-Manager Wopke Hoekstra zum Klimakommissar zu machen. Al Gore verweist darauf, dass die fossile Industrie zum letzten Klimagipfel mehr Delegierte schickte als die zehn am meisten von der Klimakrise betroffenen Staaten zusammen.

Was also tun? Gore schlägt vor, die Regeln so zu ändern, dass bei Klimakonferenzen nicht alles im Konsens entschieden werden muss und ein einziger Abweichler unter den Staaten alles torpedieren kann. Wie beim letzten Mal, als, Überraschung, Saudi-Arabien etwas dagegen hatte, dass fossile Energien auch nur erwähnt wurden. So eine Änderung werde kein Spaziergang, räumt selbst der Berufsoptimist ein. Drei Viertel der Vertragsstaaten müssten ihr zustimmen. Ich hoffe sehr, dass hinter den Kulissen bereits eifrig Netzwerke für so eine Regeländerung geknüpft werden. „Schwierig“ ist schließlich nicht gleichbedeutend mit „unmöglich“.

Vielleicht aber wird den Fossilen noch von ganz anderer Seite der Stecker gezogen. Achtzig Prozent der neu installierten elektrischen Leistung seien letztes Jahr aus Sonne und Wind generiert worden, sagt Gore. Forschende der Universität Exeter und des University College London haben ermittelt, dass die Sonne noch vor Mitte dieses Jahrhunderts zur weltweit wichtigsten Energiequelle werden könnte, vorausgesetzt, es werden ihr keine Bremsklötze in den Weg gelegt.

Na dann los, Bremsklötze weg und „Let the Sunshine In“! Damit meinten die Hippies im Musical „Hair“ anno 1969 zwar nicht die Fotovoltaik, sondern Frieden, Liebe und Harmonie. Aber hat man je einen Song gehört, der Öl und Gas mit so wunderbaren Dingen in Verbindung gebracht hätte? Eben.

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Redakteurin Kerstin Eitner sucht kleine Lichtblicke in düsteren Zeiten – und wird fündig
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