Was würden Sie tun?

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wahrscheinlich kennen Sie das Gefühl: Wenn es einen frühmorgens aus dem Schlaf reißt und im Kopf die ungeordneten Gedanken anfangen zu tanzen. Zu kurz war die Nacht bis dahin, um dem Gehirn Gelegenheit zu geben, alles zu sortieren. Stattdessen schieben sich die Bilder übereinander: Nachrichtensendungen, Erlebnisse vom Vortag, Erinnerungen, schöne wie schlimme; dazu Sorgen, Ängste. Immer mehr Deutsche schlafen schlecht, ergab eine gerade veröffentlichte Untersuchung der Barmer Ersatzkasse. Sechs Millionen Übermüdete sollen es sein, die sich nachts nicht mehr richtig erholen, und ich bin sicher, in diesen Tagen sind ein paar Hunderttausend dazu gekommen.

Wie soll man nachts auch klarkommen mit den täglichen Meldungen, die einem mit einem Gefühlsorchester allein lassen, das in voller Lautstärke spielt? Vergangene Woche schrieb an dieser Stelle meine Kollegin Kerstin Eitner, sie fühle sich nicht berufen, etwas zum Krieg im Nahen Osten zu schreiben und lieferte dann doch zwei kluge Zitate zum Thema. Auch ich würde es als anmaßend empfinden, Ihnen an dieser Stelle vermeintlich Allgemeingültiges zu verkünden, vor allem nicht als „die“ Stimme der Redaktion, in der es zum Glück viele unterschiedliche Perspektiven dazu gibt. Aber ich möchte das Durcheinander in meinem Kopf trotzdem kurz mit Ihnen teilen, einfach weil ich glaube, dass es einigen von Ihnen womöglich so geht wie mir.

Traumata

Wahrscheinlich gehören Sie nicht zu den Menschen, die sich Videos vom barbarischen Gemetzel der Hamas-Terroristen angesehen haben, ich kann es auch nicht empfehlen. Die Vorführung einer 43 Minuten langen Zusammenfassung vor der internationalen Presse durch die israelische Armee ließ einige der 150 anwesenden Journalistinnen und Journalisten in Tränen ausbrechen, anderen wurde übel. Die freiwilligen israelischen Helferinnen und Helfer, die in den Küchen der überfallenen Kibbuze, in den zerstörten Kinderzimmern, am Straßenrand oder auf den Feldern die Überreste der jüdischen Opfer bergen mussten, werden die Bilder ebenfalls nie vergessen. Auch mit den Hartgesottensten unter ihnen, die in Israel jahrelange Erfahrungen etwa mit dem Anblick der bei den vielen Sprengstoffattentaten von Hamas, Dschidhad & Co. zerfetzten Leichen gesammelt haben, um sie nach jüdischem Gebot möglichst vollständig bestatten zu können, macht es etwas, wenn sie den abgeschnittenen Kopf eines Säuglings in den Händen halten. 

Die Charta der Hamas, von der Umfragen zufolge kürzlich über fünfzig Prozent der Bewohner im Gaza oder Westjordanland eine positive Meinung haben, sieht nicht nur die Auslöschung Israels vor, sondern die der Juden auf der ganzen Welt. In ihr heißt es: „Die Stunde der Auferstehung wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn!’“

Die bei lebendigem Leib verbrannten Kinder, die aufgerissenen Bäuche der Schwangeren und Vergewaltigten, haben es nicht in die deutschen Abendnachrichten geschafft, in ganz Europa nicht, ein unauflösbares Dilemma, weil dieser Horror so nicht annähernd die nachhaltige Wucht entfalten kann wie die aktuellen Bilder aus Gaza. Dass von dort aus auch nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober bis heute regelmäßig Raketen auf die israelische Bevölkerung abgefeuert werden, wird, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Die – hoffentlich noch lebenden – über 200 jüdischen Geiseln, die jüngste neun Monate alt, die in den mit Waffen und Kämpfern vollgestopften Tunneln unterhalb von Moscheen, Wohnhäusern, Schulen und Krankenhäusern gefangen gehalten werden, sehen wir naturgemäß ebenfalls nicht. Stattdessen Abend für Abend vorwiegend die Zerstörungen durch israelische Angriffe auf die Stellungen der Hamas, die Tränen verzweifelter Mütter und blutende Kinder in Gaza City oder Al Nazlah – die oberirdischen Geiseln der terroristischen Herrscher. Als solche erleben sie schreckliche Zeiten und benötigen dringend humanitäre Hilfe. Die Hamas nimmt das Leiden der Schwächsten gern in Kauf. Die militärische Reaktion Israels, um endlich die jahrelangen Angriffe der Hamas zu stoppen, liefert zuverlässig die passenden Schreckensbilder. Sie fachen den schon vorher nicht nur in der arabischen Welt verbreiteten Judenhass immer wieder neu an.

Vorgeschichten

Umso trauriger zu erleben, wie sich auch eine Greta Thunberg indirekt mit der Mission der Hamas solidarisiert. Wenn sie sich mit „Free Palestine“-Plakaten zeigt und auf entsprechende Propagandaseiten verlinkt, macht sie sich letztlich die dortigen Forderungen zu eigen, das neue Palästina auch auf dem heutigen Staatsgebiet Israels zu errichten („From the River to the Sea...“). Man wüsste gern von ihr, was dann eigentlich aus den jetzt dort Lebenden werden soll. Dabei müssten der Zwanzigjährigen die jungen Tanzenden des von den Hamas-Barbaren gestürmten Supernova-Festivals („Free love and spirit, environmental preservation“) doch eigentlich tausendmal näher sein als die geistigen Jünger und Kostgänger der iranischen Islamisten. Die Hamas-Vorbilder lassen junge Mädchen auch schon mal totprügeln, wenn sie es wagen, ihre Haare zu zeigen. Schutz und Geld bekommt die Hamas auch von arabischen Diktaturen wie Katar, die ihren Reichtum ironischerweise der jahrzehntelangen Befeuerung der Erderhitzung verdanken und die gegen alle Proteste der weltweiten Klimaschutzbewegung den ungebremsten Ausbau fossiler Energien weiter vorantreiben. Wenigstens hat sich der deutsche Ableger von Fridays for Future umgehend von den Wortführern der internationalen Sektion distanziert („Wir sind solidarisch mit den Opfern der Gewalt der Hamas“). Man sehe auch das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, „insbesondere der Kinder“. Und sie haben so recht, wenn sie schreiben: „Unsere Herzen sind groß genug, all das gleichzeitig fühlen zu können.“

Bitter hingegen, wie UN-Generalsekretär Antonio Guterres, der für die Dringlichkeit der Klimakrise regelmäßig die richtigen Worte findet, ebenfalls unablässig vom „Kontext“ der Hamas-Untaten spricht, als gäbe es irgendeine Vorgeschichte, die deren Mordorgien rechtfertigen oder auch nur begründen könnte. Ein „Kontext“ übrigens, den er bei den Militäraktionen der israelischen Armee nicht herzustellen vermag, als läge nicht in der jahrhundertelangen Dauerverfolgung der Juden durch Pogrome, Massenmord und weltweite Terroranschläge der Schlüssel für das verzweifelte Vorgehen Israels. Die Bereitwilligkeit, mit der zunächst zahlreiche hoch geschätzte Medien von der Tagesschau über die New York Times bis zur Süddeutschen unter Verweis auf Quellen der Hamas das Propagandamärchen vom „israelischen Angriff“ auf das Al-Ahli-Hospital mit „hunderten Toten“ übernahmen, zeigt den verbreiteten Unwillen, sich aus den ewigen „Auge-um-Auge“-Erzählungen von der „Spirale der Gewalt“ zu lösen, die am Ende „beide Seiten“ auf die gleiche moralische Stufe stellt. 

Bürgerpflicht

Und dann sind da noch die wortgewaltigen Kulturkrieger der Rechten, die gern auf die antisemitischen Pro-Palästina-Demonstrierenden in Berlin-Neukölln eindreschen, aber keine Probleme mit den auf Querdenker-Kundgebungen stolz getragenen stilisierten Judensternen hatten. Oder wenn ein stellvertretender Ministerpräsident als Siebzehnjähriger Flugblätter mit sich herumtrug, in denen als ironisiertes Gewinnspiel ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ oder ein „Aufenthalt im Massengrab“ ausgelobt wurde. Und selbst, wenn es mal wirklich gut gemeint ist wie bei der viel zu schwach besuchten Berliner Solidaritätsdemonstration mit Israel, klingt eine Rede wie die von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier ungut in den Ohren. Er spricht im bleiernen Tonfall von der „Bürgerpflicht“, dem Judenhass entgegen zu treten – und rückt diese Herzenssache emotional damit ungewollt in die Nähe von Kehrwoche und Einkommenssteuerzahlung.

Irgendwann morgens zwischen 3:46 Uhr und 5:12 Uhr findet man sich so im Gedankennebel zwischen allen Stühlen wieder, dort, wo sich auch weite Teile der israelischen Linken und Friedensbewegung gerade sehen. Vergangene Woche veröffentlichte eine Gruppe von 75 prominenten Intellektuellen wie der Soziologin Eva Illouz oder dem Schriftsteller David Grossmann einen offenen Brief an ihre progressiven Freundinnen und Freunde in aller Welt: „Wir hätten nie gedacht, dass Menschen auf der Linken, die für Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlfahrt eintreten, eine solch extreme moralische Gefühllosigkeit und politische Rücksichtslosigkeit an den Tag legen würden.“ Wir alle müssen uns die Frage, die Matan, der israelische Schwager einer Freundin von mir, auf Instagram gestellt hat, gefallen lassen: „Was würden Sie tun?“ 

Ich finde keine Antwort, die mich gut schlafen lässt.

Ich wünsche Ihnen trotz allem ein gutes, erholsames, ausgeschlafenes Wochenende und sehne mich weiter nach Nachrichten, in denen keine Kinder mehr sterben und keine Eltern und Großeltern mehr weinen, egal, auf welcher Seite der Grenzen Israels.

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Redakteur Fred Grimm über Terror und den Platz zwischen den Stühlen
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Werte Gemeinschaft!

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dieser Tage unterblieb so einiges: der endgültige Abschied von Öl und Gas auf dem 27. UN-Klimagipfel zum Beispiel, ebenso wie konkrete Verpflichtungen zum finanziellen Ausgleich für klimabedingte Schäden und Verluste in ärmeren Ländern durch die Verursacher oder zur Reduzierung von Treibhausgasen. Rationale, nachvollziehbare und halbwegs humane Entscheidungen beim neuen Twitter-Besitzer Elon Musk. Eine One-Love-Armbinde am Oberarm des deutschen Mannschaftskapitäns Manuel Neuer bei der Fi-Fa-Fußball-WM auf Geheiß jener korrupten und geldgierigen Bande, die den Weltfußball besitzt. Rückhaltlose Begeisterung für ebendiese WM. Die iranische Fußballmannschaft unterließ das Mitsingen bei der Nationalhymne und erntete viel Lob für ihre Haltung.

Derzeit ist wieder viel von „unseren westlichen Werten“ die Rede, denen bitte die ganze Welt umgehend zu folgen hat, weil wir sonst…äh…leider doch weiterhin allerlei Produkte, Rohstoffe und fossile Energien bei Diktatoren, Autokraten und Ausbeutern bestellen, denen wir andererseits gern auch unsere eigenen Erzeugnisse verkaufen, noch ein Viertelpfund kritische Infrastruktur drauflegen und das per Handschlag besiegeln. Was willst du schließlich auch machen, normative Kraft des Faktischen und so.

Faktisch ist es zweifellos richtig und geboten, die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen von Wanderarbeitern, die Unterdrückung von Frauen, Repressalien gegen ethnische Minderheiten und alles, was in irgendeiner Form queer zur herrschenden Sexualmoral steht, anzuprangern, aber wir sollten uns schon mal fragen, ob wir uns zu den Guten zählen dürfen. Wanderarbeiter und -arbeiterinnen hießen bei uns früher „Gastarbeiter“, hatten schwere und dreckige Arbeit zu verrichten und ansonsten nichts zu melden. Arbeitswillige schaffen es heute oft nicht einmal mehr bis nach Deutschland, weil sie vorher im Mittelmeer ertrinken oder in elenden Lagern im Nirgendwo stranden. Auch Arbeitskräfte aus EU-Ländern sind nicht auf Rosen gebettet, man denke an die Skandale um Unterbringung und Arbeitsbedingungen von Menschen aus Rumänien oder Bulgarien während der Corona-Pandemie, etwa in Schlachtbetrieben.

Frauen sind bei uns zwar laut Grundgesetz gleichberechtigt, aber der Gender Pay Gap existiert nach wie vor, in Firmenvorständen und Aufsichtsräten herrscht alles andere als Parität, und Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 ein Straftatbestand (die 138 Nein-Stimmen stammten von Abgeordneten aus CSU, CDU und FDP, übrigens auch von Friedrich Merz). Die Ehe für alle gibt es seit gerade mal fünf Jahren, und die LGBTQ-Community, aller Regenbogenfolklore zum Trotz, trifft längst nicht überall auf Toleranz. Im Gegenteil: Wer erkennbar dazugehört, muss mit gewalttätigen Übergriffen rechnen, die auch tödlich enden können. Rassismus und Antisemitismus gehören ebenso wenig einer finsteren Vergangenheit an, sondern sind traurige Gegenwart.

Das indiskutable und unsensible Verhalten von Politik, Ermittlern und Behörden im Fall Murat Kurnaz, gegenüber den Angehörigen der Opfer des NSU oder nach den Anschlägen von Hanau und Halle: keine bedauerlichen Einzelfälle, sondern deutsche Tradition. Wenn in Sonntagsreden immer wieder „unsere Werte“ beschworen werden, warum bittet dann niemand die Betroffenen offiziell und in aller Form um Verzeihung?

Wenn der Staat schon mal dabei ist, könnte er sich ruhig auch bei allen Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern entschuldigen, die Missstände in Unternehmen, Finanz- und Arbeitsämtern, Pflegeheimen und Apotheken öffentlich angeprangert haben und dafür nicht gelobt, sondern gemobbt, entlassen und psychisch zermürbt wurden. Da fällt mir ein: Wie wäre es denn mit Asyl für Edward Snowden, der nicht zum Vergnügen in Moskau hockt und die russische Staatsbürgerschaft angenommen hat, und Julian Assange, dem in den USA eine Haftstrafe von 175 Jahren droht?

Bleibenlassen mag ja mitunter ganz gut sein für die CO2-Bilanz (rasen, reisen, rödeln) und das Nervenkostüm, aber oft hilft nur entschlossenes Handeln. Besser spät als nie, aber noch besser früh genug. Denn, Sie wissen schon: unsere Werte. Gleichheitsprinzip, Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit. Solidarität, Empathie, Mut und Haltung.

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Unsere Redakteurin Kerstin Eitner findet Unterlassen mitunter gut, Handeln aber oft besser
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Kerstin Eitner
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