Fantastisch unterirdisch

Text

wissen Sie, was der artenreichste Lebensraum auf unserem Planeten ist? Wahrscheinlich denken Sie jetzt an die tropischen Regenwälder. Oder sind es doch die Korallenriffe? Oder die Tiefsee? Alles falsch. Ich habe wirklich gestaunt, als ich von dieser Zahl gelesen habe: Die größte Artenvielfalt auf der Erde herrscht – unter der Erde. Zwei Drittel aller Arten verbringen ihr Leben zumindest teilweise im Boden, mehr als doppelt so viele, wie man bisher angenommen hatte.

Die verblüffende Zahl ist das Ergebnis einer Studie, für die drei Wissenschaftler aus der Schweiz im vergangenen Jahr umfangreiche Datensätze aus der Fachliteratur ausgewertet haben. „Vor allem für die ganz kleinen Organismen wie Bakterien, Viren, Archaeen, Pilze und Einzeller hat noch niemand eine Schätzung der Vielfalt versucht“, sagte Mark Anthony von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, der Erstautor der Analyse, die im renommierten Fachjournal PNAS erschienen ist. Neben Millionen unterschiedlicher Mikroorganismen leben auch Abertausende Arten von Ringel- und Fadenwürmern, von Asseln, Springschwänzen und Insekten unterirdisch. Sie alle zusammen halten einen Kreislauf in Gang, der das Leben auf der Erde erst möglich macht: das ewige Recycling der Überreste abgestorbener Pflanzen und Tiere, die anschließend als Nährstoffe für neues Leben wieder zur Verfügung stehen. Es ist ein faszinierend ausgeklügeltes System, das sich die Natur da ausgedacht hat – und das auch die menschliche Ernährung sichert.

Doch das „System Erde“ ist in Gefahr. „Die Böden stehen enorm unter Druck, sei es durch landwirtschaftliche Intensivierung, den Klimawandel, invasive Arten und vieles mehr“, sagt Mark Anthony. Der Ökologe hofft, dass seine Vielfaltsstudie das Bewusstsein dafür schärft, wie wertvoll das Bodenleben ist und wie wichtig sein Schutz. Und genau dazu möchten wir auch mit dem neuen Greenpeace Magazin einen Beitrag leisten, das in der kommenden Woche erscheint.

Auf 45 Seiten gehen wir unter dem Motto „Bodenlos“ der Frage nach, wie wir unsere Lebensgrundlage erhalten können, die durch Pestizide vergiftet, durch Pflüge der Erosion preisgegeben, durch Autobahnen versiegelt und durch den Vormarsch der Wüsten vernichtet wird. Wir liefern Ihnen Zahlen und Hintergründe zum Verlust der Böden weltweit, erklären in einem Report, wie die explodierenden Landpreise die deutsche Agrarwende gefährden, und zeigen, wie in Lettland wertvolle Moorböden abgebaut werden, um als Torf in deutschen Kleingärten und Gemüsegärtnereien zu enden.

Doch unsere Recherchen haben uns auch zu Menschen geführt, deren Engagement und Weitsicht Mut machen: Die Reporter Marius Münstermann und Christian Werner haben Landwirtinnen und Landwirte auf ihren Höfen besucht, die den Bodenverlust nicht nur stoppen, sondern die Entwicklung sogar umdrehen wollen – indem sie mit neuen Anbaumethoden den Humusaufbau fördern. Ihre Reportage ist spannender Lesestoff und optischer Genuss zugleich.

Neben unserem erdverbundenen Schwerpunktthema möchte ich Ihnen auch unseren multithematischen Teil 2 der neuen Ausgabe ans Herz legen, der ebenfalls – vor ernstem Hintergrund – Ermutigendes für Sie bereithält: Wir berichten über Meeresschutz in Thailand, über sauberen Goldschmuck, von einem transpazifischen Tête-à-Tête unter Walen und dem Stopp des geplanten Atommüllendlagers in Würgassen. Außerdem hat unser Reporter Nils Klawitter recherchiert, wie viel Wasser und Strom die gigantischen Rechenzentren von Digitalkonzernen wie Meta verschlingen – und wie eine kastilische Dorfgemeinschaft sich dagegen wehrt.

Ganz besonders empfehle ich aber das Doppelinterview mit den Friedensaktivistinnen Yael Braudo-Behat und Marwa H. zur Lektüre – die eine israelische Jüdin, die andere Palästinenserin aus dem Westjordanland. Mein Kollege Fred Grimm konnte mit den beiden Aktivistinnen sprechen, kurz bevor ihre Schwesterorganisationen „Women Wage Peace“ und „Women of the Sun“ gemeinsam für den Friedensnobelpreis nominiert wurden. „In vielen Teilen der Welt wird mal für Israel, mal für Palästina demonstriert“, sagt Braudo-Bahat: „Wir sagen, hört auf so zu denken. Fangen Sie an von ,Pro Frieden' zu sprechen, für beide Seiten, für die Frauen.“

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende – mit Vorfreude auf das Magazin, das am Mittwoch erscheint!

Schlagworte
Autorenbild
Anje Jager
Unterschrift
GPM
Untertitel
Redakteur Wolfgang Hassenstein freut sich auf eine tiefgründige Ausgabe des Greenpeace Magazins
Stichzeile
Wochenauslese
Text Credit Beschriftung
Text
Kachel Viel Text
Off
Hintergrundfarbe
#fbe8ff
Startseiten Sortierung
-526
Unterschrift Text

Wolfgang Hassenstein
Redakteur

Überschrift
Schon gelesen?
Überschrift
Schon fair eingekauft?
Überschrift
Schon abonniert?
Startseite Pinned
Aus
Startseiten Sortierung Backend
-523

Alles Gute zum Geburtstag!

Text

im thüringischen Saale-Orla-Kreis wird jetzt der Herrgott Landrat. Der Christian Herrgott von der CDU. Und das ist auch gut so, um mal einen einst ziemlich berühmten SPD-Mann zu bemühen. Denn wäre Herrgott letzten Sonntag nicht in der Stichwahl mit 52,4 Prozent der Stimmen gewählt worden, dann hieße der Landrat jetzt Uwe Thrum. Der ist von der AfD und hatte im ersten Wahlgang noch zwölf Prozentpunkte vor dem zweitplatzierten CDU-Mann gelegen.

Doch dann geschah das – aus Sicht der AfD – Ungeheure: Eine breite Mobilisierungswelle aus Zivilgesellschaft und demokratischen Parteien verhinderte den Sieg des rechtsextremen Kandidaten. Der habe „gegen alle kämpfen“ müssen, hieß es etwas weinerlich in einem Statement seiner Partei: „Altparteien, die Konzernmedien, den öffentlichen Rundfunk, staatlich finanzierte Kampagnenagenturen, Arbeitgeber, Kirchen, Gewerkschaften, bestellte Demonstrationen…“

Wo die AfD ausnahmsweise mal recht hat, da hat sie recht. Nur dass man sich den Verschwörungsduktus wegdenken, bei den Demonstrationen das Wort „bestellt“ streichen und „Kampagnenagenturen“ in „NGOs“ übersetzen muss, die ihre Aktivitäten zum allergrößten Teil oder ausschließlich aus Spenden finanzieren. Wie zum Beispiel die Organisation Campact, die Online-Kampagnen initiiert, eine Petitionsplattform betreibt, zu Demos aufruft und auch mit Anzeigen oder Plakataktionen für ihre Anliegen mobilisiert. Motto diesmal: „Braun mag ich nur meine Bratwurst“, illustriert mit einer aufgespießten Original Thüringer.

Zwar können nicht alle zum Demonstrieren in den Saale-Orla-Kreis fahren geschweige denn dort abstimmen, aber man konnte die Plakatkampagne auch aus der Ferne finanziell unterstützen. Habe ich gemacht und mich damit zum allerersten Mal in meinem Leben, wenn auch indirekt, für einen CDU-Kandidaten eingesetzt. So was kann erstaunlich gut klappen, wie sich etwa bei der Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen letzten September gezeigt hat – da gewann ein parteiloser Kandidat.

Es gibt überhaupt allerhand, was man tun kann, um die Demokratie zu verteidigen und sich der vielleicht gar nicht so unaufhaltsamen rechten Welle entgegenzustemmen. Demonstriert haben ja mittlerweile Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen in den Wochen nach den Enthüllungen der Rechercheplattform Correctiv – das Treffen, über das sie berichtete, war übrigens nicht das Erste seiner Art. Großartig, dass auch in kleineren Städten und Gemeinden im Osten des Landes immer wieder Menschen den Mut aufbringen, auf die Straße zu gehen, obwohl (oder weil) an ihrem Wohnort die AfD dominiert, Hass, Hetze und Bedrohungen gedeihen.

Der Souverän wird eine Weile durchhalten müssen, um den Rechten klarzumachen: Damit ihr es wisst, wir sind das Volk, und wir sind viel mehr als ihr. Saale-Orla-Kreis ist überall. Deshalb ist es wichtig, in Scharen an die Wahlurnen zu eilen, wann und wo auch immer dazu aufgerufen wird, lokal, regional, international: in den jeweiligen Bundesländern zu Kreistags-, Gemeinde-, Stadtrats- oder Landtagswahlen, und natürlich zu den Europawahlen, um die EU-Abschaffer auszubremsen. Ich weiß, Sie gehen sowieso hin, aber ich werde sicherheitshalber beizeiten daran erinnern.

Gutes Stichwort: Wir sollten auch unsere Staatsdiener und Staatsdienerinnen mit Nachdruck erinnern, dass jetzt allerhöchste Zeit ist, dem Treiben von AfD und Co. politisch und juristisch Einhalt zu gebieten. Durch einen Parteiverbotsantrag beispielsweise. Oder Verbote von Landesverbänden oder anderen Unterorganisationen.

Oder durch politische Betätigungsverbote nach Artikel 18 Grundgesetz für Einzelpersonen wie etwa Björn Höcke – am Mittwoch konnte unter anderem Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann die rund 1,67 Millionen Unterschriften einer Online-Petition mit dieser Forderung in Empfang nehmen. Außerdem wäre es geboten, das Verfassungsgericht mittels einer Grundgesetzänderung wasserfest gegen Übergriffe von Rechtsextremen zu machen – eine Idee, mit der sich offenbar auch die CDU/CSU anfreunden kann.

Sie sehen, es gäbe eine hübsche Auswahl an Geschenken zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes in diesem Jahr. Aber sie sollten bald bereitliegen. Denn wie sagte doch am Mittwoch die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi im Bundestag: „Die Shoah begann nicht mit Auschwitz. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft.“ 

Autorenbild
gpm
Unterschrift
GPM
Untertitel
Redakteurin Kerstin Eitner wüsste was Passendes zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes
Stichzeile
Wochenauslese
Text Credit Beschriftung
Text
Kachel Viel Text
Off
Hintergrundfarbe
#f9ffd8
Startseiten Sortierung
-525
Unterschrift Text

Kerstin Eitner
Redakteurin

Überschrift
Schon gelesen?
Überschrift
Schon fair eingekauft?
Überschrift
Schon abonniert?
Startseite Pinned
Aus
Startseiten Sortierung Backend
-522

Minister als Schaffner

Text

für all jene, die zunehmend allergisch auf Formulierungen wie „besorgte Bürger“ oder „schweigende Mehrheit“ reagieren, die so gern angeführt werden, wenn es mal wieder darum geht, eine Art „AfD light“-Politik gegen Ausländer, Ärmere, Klima- oder Umweltschutz zu rechtfertigen, waren die vergangenen Tage in Deutschland eine echte Offenbarung. Erstaunlich viele Meinungsmacher:innen in Medien und Politik stellten erstaunt fest, dass es sich bei der „schweigenden Mehrheit“, von der sie immer sprechen, wohl eher um eine ziemlich laute Minderheit handelt. Aufgerüttelt durch die Correctiv-Enthüllungen zu den Deportationsfantasien von Neonazis, der AfD bis hin zum rechten Rand der Union, demonstrieren täglich Zehntausende, manchmal Hunderttausende, dass sie keine Lust haben, Werte wie Vielfalt, Toleranz und Solidarität kampflos aufzugeben. Dem Diktat der schlechten Laune und des Hasses setzen die vielen, gesellschaftlich erfreulich breit aufgestellten Demo-Bündnisse von Aachen bis Zwickau eine eher zukunftszugewandte Weltsicht entgegen. Falls auch Sie dieses Wochenende wieder mit dabei sein wollen, finden Sie hier eine Zusammenstellung der angemeldeten Kundgebungen. Wir sehen uns!

Falls Sie nicht direkt an einem dieser Orte wohnen, könnte es allerdings mit der Anreise schwierig werden. Jedenfalls, wenn Sie auf die Bahn vertrauen. Nicht dass Sie durcheinander kommen: Diesmal ist es nicht die marode Infrastruktur mit der nächsten Großbaustelle, die für Verspätungen und Zugausfälle sorgt. Es sind wieder einmal die Lokführer mit ihrem – Moment, ich zähle mal… – vierten Streik in der aktuellen Verhandlungsrunde. Es tut mir immer ein bisschen weh, wenn ich in der Berichterstattung „Lokführergewerkschaft“ höre, denn das Wort „Gewerkschaft“ passt eher zur im DGB organisierten „Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)“ mit ihrer Viertelmillion Mitgliedern. Die GDL dagegen verstand sich ursprünglich eher als eine Art Funktionselite nach Art der Pilotenvereinigung Cockpit. Auch erinnert ihr Vorsitzender Claus Weselsky, der sich dem konservativen Flügel der sächsischen CDU zurechnet und mit wütenden Attacken auf den angeblichen „Schmuddeljournalismus“ gern mal nach rechtsaußen blinkt, nicht gerade an einen Arbeiterführer. Und doch teile ich als leidenschaftlicher Bahnfahrer seine wütende Analyse, dass die Lokführer „in einem kaputtgesparten, maroden System“ Dienst tun müssen. Ganz so wie die anderen hunderttausenden großartigen Bahn-Mitarbeitenden auch, die täglich Widrigkeiten trotzen müssen, für die sie nichts können. 

Für mich ergibt sich aus dem Dauerärger um die Bahn, der in den kommenden Jahren für Bahn-Schaffende und -Kund:innen eher noch größer werden wird, eines der ungeklärten politischen Rätsel unserer Zeit. Warum nur hat niemand im politischen Berlin Ambitionen, die Bahnkatastrophe einmal grundsätzlich aufzuklären? Ich verspreche hiermit feierlich, mich bei der kommenden Bundestagswahl für die Partei zu entscheiden, die genau zu dieser Frage den längst überfälligen Untersuchungsausschuss im Bundestag beantragt und hoffentlich auch durchsetzt. Die Wiedersehensfreude hält sich bei mir zwar in überschaubaren Grenzen, aber ich möchte sie trotzdem alle gern noch einmal live erleben: Die ehemaligen Bahnmanager, die von Börsengängen träumten und Sparrunden zelebrierten, und, vor allem, die früheren Verkehrsminister – seit 2009 ausschließlich in der CSU –, die sich in ihren jeweiligen Amtszeiten darauf konzentriert hatten, den bayrischen Raum mit Fern- und Umgehungsstraßen zuzupflastern, die jeden neuen Autobahnkilometer bejubelten wie einen Meisterschaftsgewinn des FC Bayern und die das Fachpersonal, das Schienennetz, die Ausbildungsplätze und die technische Infrastruktur mit einer Brachialgewalt abbauten, als bräuchten sie die Flächen, um dort weitere neue Autobahnen bauen zu können.

Ich möchte über all das, über jede einzelne Entscheidung, die zum Abbau von Stellwerken, zur Stilllegung von Ersatzgleisen oder Reparaturbahnhöfen führte, sehr gern einen viele tausend Seiten langen Bericht lesen, der für die Nachwelt festhält, wie neoliberale Ideologie, Ignoranz, Autowahn und schiere Unkenntnis heute die Zukunftsfähigkeit eines ganzen Landes bedrohen und wie viele Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung durch die zahllosen Ausfälle und Verspätungen inzwischen verloren gegangen sind. Und dann möchte ich sie alle bis zum Eintritt ins Pensionsalter am liebsten nur noch in Schaffneruniformen sehen. Natürlich auf den meist befahrenen, dauerverspäteten Bahnstrecken, um den nicht mal mehr wütenden, sondern nur noch resignierten Kundinnen und Kunden in Ruhe zu erklären, was sie sich da eigentlich in ihrer jeweiligen Amtszeit gedacht haben. Beziehungsweise: Warum nicht.

Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende!

Schlagworte
Autorenbild
Anje Jager
Unterschrift
GPM
Untertitel
Unser Redakteur Fred Grimm freut sich über Menschenaufläufe, aber nicht auf dem Bahnhof
Stichzeile
Wochenauslese
Text Credit Beschriftung
Text
Kachel Viel Text
Off
Hintergrundfarbe
#fbe8ff
Startseiten Sortierung
-523
Unterschrift Text

Fred Grimm
Redakteur

Überschrift
Schon gelesen?
Überschrift
Schon fair eingekauft?
Überschrift
Schon abonniert?
Startseite Pinned
Aus
Startseiten Sortierung Backend
-520

Rutschpartie

Text

sieht man von der höchstwahrscheinlich von der Klimakrise mitverursachten Hochwasserlage ab, legt das Jahr 2024 einen ziemlich glatten Start hin, jedenfalls auf Straßen, Geh- und Fahrradwegen. Huch, Schnee und Eis! Wo sich niemand fürs Räumen oder Streuen zuständig fühlt, entstehen fiese Buckelpisten. Ohne Spikes unter den Schuhen wird es schwierig.

Um meiner Räumpflicht Genüge zu tun, habe ich zum Auftakt ein paar gute Nachrichten aus dem Jahr 2023 zusammengefegt: Einen Booster für Erneuerbare, einen bereits erreichten oder bevorstehenden Wendepunkt bei den Emissionen aus der Energieerzeugung, Fortschritte bei der Bekämpfung von Plastikverschmutzung, ein Abkommen zum Schutz der Ozeane, das und mehr finden Sie hier.

In Deutschland stammte die Energie zur Stromerzeugung erstmals zu mehr als der Hälfte, 56 Prozent laut Bundesnetzagentur, aus Wind, Sonne und Wasser. Portugal schaffte es letztes Jahr, das ganze Land sechs Tage am Stück mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Und apropos Hochwasser: Das Konzept der Schwammstadt greift immer mehr um sich, wie dieses Beispiel aus China zeigt.

Weil aber 2023 auch das heißeste Jahr aller Zeiten war und die Erde zum ersten Mal an der magischen 1,5-Grad-Grenze gekratzt hat, wobei es nicht bleiben wird, müssen wir uns leider auch auf Verluste einstellen. Gletscher, Permafrost, Skigebiete – für die wird es eng.

Die Niederlande, schreibt der US-Autor Benjamin Moser, werden sich wohl mit dem endgültigen Aus für eine alte Tradition abfinden müssen, die Elfstedentocht. Diese Elfstädtetour, ein Langstreckenrennen über fast 200 Kilometer auf Natureis in der Provinz Friesland, gibt es offiziell seit 1909, inoffiziell gab es sie bereits im 18. und 19. Jahrhundert. Sie führt über zugefrorene Kanäle, Flüsse und Seen und ist ein kulturelles Großereignis mit Volksfestcharakter, nicht nur für Friesland.

Zuletzt wurde sie am 4. Januar 1997 ausgerichtet. Zwar gab es auch früher schon mehrjährige Pausen zwischen den Touren, denn natürlich friert es nicht jeden Winter so kräftig und anhaltend, dass das Eis wie vorgeschrieben auf der gesamten Strecke fünfzehn Zentimeter dick ist.

Über ein Vierteljahrhundert ohne Elfstedentocht, das ist allerdings außergewöhnlich – oder vielleicht auch nicht, so Moser, der seit über zwanzig Jahren in den Niederlanden lebt. Niemand traue sich jedoch, öffentlich zu verkünden, dass es ein Abschied für immer sein könnte. Als wäre jemand vor vielen Jahren mit einem Kleinflugzeug abgestürzt und nie gefunden worden, und die Verwandten hofften immer noch, dass die vermisste Person plötzlich wieder auftaucht.

So ähnlich sei es auch mit dem Verschwinden einer vertrauten Lebensweise: dem, was man sich gemeinhin unter Landwirtschaft vorstellt. Denn längst sei alles Beschauliche und Idyllische daraus verschwunden (geschildert auch in dem überaus lesenswerten Buch „Wie Gott verschwand aus Jorwerd“ von Geert Mak). Landwirtschaft sei ein weitgehend hochindustrialisiertes und -subventioniertes Geschäft. Ob die Trauer über das Ende der Elfstedentocht die Erkenntnis befördern könnte, dass Inaktivität beim Klimaschutz ihren Preis hat?, fragt sich der Autor.

Mag sein. Aber der bäuerliche Frust sitzt sehr tief. Hierzulande reicht er weit zurück in die Vorampelzeit, und der korrekte Adressat wäre Brüssel, denn dort wird die Landwirtschaftspolitik gemacht. Andererseits bezieht mancher Hof bis zur Hälfte seines Jahreseinkommens aus dem Subventionstopf, der ein Drittel des EU-Gesamtbudgets verschlingt.

Im Grunde ein zweifelhaftes Geschäftsmodell, und doch reicht das Geld offenbar nicht, um alle Vorgaben zu erfüllen. Preisdiktate von Molkereien, Schlachtbetrieben und Handel, explodierende Boden- und steigende Energiepreise, Inflation, Auflagen, Bürokratie – Bäuerinnen und Bauern sehen sich vielen Zwängen unterworfen und finden, wie sie sagen, kaum Gehör bei der Politik.

Außer natürlich bei der AfD und anderen Rechtsextremen, die frohgemut auf der Protestwelle surfen. Dabei kommen dann Sachen raus wie Schilder mit einer Ampel am Galgen oder die Fährblockade in Schlüttsiel – der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck muss derzeit als Watschenmann für alles herhalten, was irgendwie schiefläuft. „Es wird sichtbar, dass in den letzten Jahren etwas ins Rutschen geraten ist, was den legitimen demokratischen Protest und die freie Meinungsäußerung entgrenzt“, sagte der Minister in einem in sozialen Medien veröffentlichten Video. Wohl wahr. Gegen diese Art von fiesen Buckelpisten helfen auch keine Spikes.

Wer nun aber glaubt, mit der AfD würde irgendwas besser, müsste eigentlich auch von der Existenz von Einhörnern überzeugt sein. Was dem Land unter einem AfD-Regime blühen könnte, zeigt das jüngst aufgedeckte Geheimtreffen von Menschen aus AfD-, Neonazi- und Unternehmenskreisen im letzten November nahe Potsdam: nichts weniger als millionenfache Deportationen, chemisch reiner Rassismus.

Da müssen sich viele landwirtschaftlichen Betriebe wohl schon mal Gedanken machen, wer dann die Knochenjobs der Saisonarbeiter auf den Gurkenfliegern, bei der Spargelernte oder der Weinlese übernehmen soll.

Wie es auch ganz anders gehen könnte in der Landwirtschaft, zeigt unsere vierteilige Multimedia-Reportage „Boden Burnout“.

Ich wünsche Ihnen ein entspanntes Wochenende ohne Bahnstreik, Treckerblockaden und Glatteis!

Wenn Sie mögen, leiten Sie diese Wochenauslese gern weiter. Abonnieren können Sie sie übrigens hier. Und wenn Sie auch unsere Presseschau zu Umwelt- und Klimathemen lesen möchten, können Sie sich hier dafür anmelden – dann halten wir Sie montags bis freitags auf dem Laufenden. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sind!

Autorenbild
gpm
Unterschrift
GPM
Untertitel
Redakteurin Kerstin Eitner schlittert mit gemischten Gefühlen ins neue Jahr
Stichzeile
Wochenauslese
Text Credit Beschriftung
Text
Kachel Viel Text
Off
Hintergrundfarbe
#f9ffd8
Startseiten Sortierung
-519
Unterschrift Text

Kerstin Eitner
Redakteurin

Überschrift
Schon gelesen?
Überschrift
Alle Textilien und Bücher jetzt 50% reduziert
Überschrift
Schon abonniert?
Startseite Pinned
Aus
Startseiten Sortierung Backend
-516

Die Weitermacher

Text

zum Jahresende ein Ratatouille aus Krieg, Terror, Klimakrise, Ampelstreit, Rechtspopulismus? Und zum Schluss sitzen alle mit Bauchgrimmen unter der Tanne zu den Klängen von „Komm, wir geben auf“ (ein Song des Kabarettisten Tobias Mann, hier zu sehen und zu hören ab ca. Minute 7)?

Nichts da. Hier kommen als Stimmungsaufheller ein paar Unverdrossene aus Mali. Da war doch was? Genau: Im Sommer 2022 schrieb ich schon einmal über ein sehr spezielles Projekt in Timbuktu. Es ging um Postkarten, Kalligrafien und ein paar andere Dinge, die man beim wohl einzigen Online-Shop im Sahel bestellen und sich auf höchst abenteuerlichem Wege schicken lassen kann.

Wenn irgendwo in der Welt ein Artikel über das Projekt erschienen ist, geht in der Regel ein Schwall von Bestellungen ein – und im Postamt in Timbuktu werden mal wieder die Briefmarken knapp. Oder es sind schlicht keine mehr da. Nicht selten fallen die Flüge zwischen Timbuktu und Bamako aus. Oder es sind wegen eines Embargos der ECOWAS gleich alle Grenzen geschlossen.

Dieses Frühjahr hat der Urheber der Idee, der US-Amerikaner Phil Paoletta, dem Land und seinem Hostel in Bamako mit dem schönen Namen „The Sleeping Camel“ (Das schlafende Kamel) schweren Herzens den Rücken gekehrt und ist mit seiner Familie nach Senegal gezogen. Aber er, sein Freund Ali Nialy in Timbuktu und alle anderen an dem Projekt Beteiligten machen trotz der erschwerten Bedingungen weiter.

Nach dem bislang letzten Putsch 2021 hat sich die Situation vor allem für die Bevölkerung weiter verschlechtert. Es gibt kaum Jobs, Touristen bleiben weg, alles wird teurer. Nicht nur die in Mali verhassten französischen Truppen sind seit August 2022 weg. Diesen Sommer forderte die Junta auch alle anderen an der UN-Mission MINUSMA Beteiligten auf, das Land zu verlassen, darunter auch Einsatzkräfte der Bundeswehr.

Einfach war es für die Leute in Timbuktu und Bamako ja ohnehin nie, aber hinschmeißen? Kommt nicht infrage, denn: „Einem Dutzend Familien wird eine Rettungsleine zugeworfen, und Tausende von Dollars fließen in die Wirtschaft Timbuktus. Einiges davon wird gespart, ein Großteil aber für den täglichen Bedarf ausgegeben. Die Frauen, die takula (Fladenbrot), Gemüse und Fisch aus dem Niger-Fluss verkaufen, die Läden mit Milchpulver, Tee und Seife, die Stoffhändler, sie alle verdienen daran“, schreibt Phil Paoletta in seinem Newsletter.

Und siehe da, der Durchhaltewillen zahlt sich aus, meldet er im Dezember. Jetzt läuft die Sache mit den Postkarten nämlich über die senegalesische Hauptstadt Dakar. Sie werden

- handgeschrieben, abgestempelt und frankiert in Timbuktu;
- per Luftfracht nach Bamako befördert (wenn es endgültig keine UN-Flüge mehr gibt, will die Fluggesellschaft Sky Mali die Strecke wieder bedienen – bitte Daumen drücken);
- in Bamako mit dem Motorrad zu einer Busstation gebracht;
- 1170 Kilometer mit dem Bus nach Mbour im Westen des Senegal expediert;
- per Taxi bei Phil Paoletta in Somone südlich von Dakar abgeliefert;
- der nimmt sodann den Zug nach Dakar und geht dort vom Bahnhof aus zu Fuß zum Postamt, nach seinem Bekunden eines der weltbesten: Er habe in weniger als zehn Tagen Rückmeldungen von Leuten bekommen, bei denen Karten eingetroffen waren – absoluter Rekord.

Wer mit dem Gedanken spielt, eine Bestellung aufzugeben, kann also nicht nur in näherer Zukunft mit weitgereister Post rechnen, sondern tut auch noch etwas Gutes, egal zu welcher Jahreszeit.

Bevor das Jahr 2023 nun aber zu Ende geht, schauen Sie doch noch mal in unsere Multimedia-Reportage zum Thema Boden. Teil 3 – Grüne Revolution 2.0 – ist ab morgen online.

Ich wünsche uns allen geruhsame Feiertage und einen guten Start ins Jahr 2024!

Wenn Sie mögen, leiten Sie diese Wochenauslese gern weiter. Abonnieren können Sie sie übrigens hier. Und wenn Sie auch unsere Presseschau zu Umwelt- und Klimathemen lesen möchten, können Sie sich hier dafür anmelden – dann halten wir Sie montags bis freitags auf dem Laufenden. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sind!

Schlagworte
Autorenbild
gpm
Unterschrift
GPM
Untertitel
Redakteurin Kerstin Eitner bewundert Menschen, die trotz Schwierigkeiten nicht aufgeben
Stichzeile
Wochenauslese
Text Credit Beschriftung
Text
Kachel Viel Text
Off
Hintergrundfarbe
#ffe4de
Startseiten Sortierung
-516
Unterschrift Text

Kerstin Eitner
Redakteurin

Überschrift
Schon gelesen?
Überschrift
Schon fair eingekauft?
Überschrift
Schon abonniert?
Startseite Pinned
Aus
Startseiten Sortierung Backend
-513
abonnieren