Sechs gegen Europa

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welche Sorgen hatten Sie mit elf Jahren? Welche mit 15? Und mit 18? Vielleicht blickten Sie angstvoll auf die nächste Klassenarbeit, fürchteten eine Abfuhr von Ihrem Teenie-Schwarm oder waren sich unsicher, wie es nach der Schule weitergeht. Aber ich wette, Ihnen wäre nicht in den Sinn gekommen, ganze Staaten zu verklagen. Genau das ist diese Woche in Straßburg passiert: Sechs junge Menschen aus Portugal haben Europa auf die Anklagebank gebracht. Am Mittwoch begann der Prozess, ein epochales Bild: Auf der einen Seite die Vertreter von 31 Staaten – darunter auch Deutschland – und ihre Kompanie aus über achtzig Anwälten. Auf der anderen Seite: die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die jüngste, Mariana Duarte Agostinho, ist gerade mal elf Jahre alt, die älteste, Catarina Mota, 24 – und ihre sechs Anwälte.

Sie sind vor Gericht gezogen, damit die Regierungen mehr gegen die Klimakrise unternehmen. Aus Angst davor, in wenigen Jahrzehnten in einer Drei-Grad-Welt leben zu müssen. Damit haben die Sechs schon jetzt Geschichte geschrieben: Es ist die bisher größte zugelassene Klimaklage. Noch nie standen so viele Staaten auf einmal vor Gericht, und es ist die erste länderübergreifende Klimaklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Jugend klagt

Mich beeindruckt ihr Mut, gleichzeitig spiegelt sich darin aber auch, welche existenziellen Sorgen und Ängste diese jungen Menschen plagen müssen, damit sie diesen Schritt gehen. Eingereicht haben sie ihre Klage bereits 2020, bewegt haben sie dazu die verheerenden Waldbrände, die 2017 durch Portugal tobten und in denen Dutzende Menschen verbrannten. Seitdem hatten die jungen Leute den Rechtsweg vorbereitet – eine riesige Herausforderung, aber auch eine Chance. Bekommen die Klägerinnen und Kläger Recht, könnte der Gerichtshof nicht nur die EU-Mitgliedsstaaten, sondern auch die mitangeklagten Länder wie Norwegen, die Schweiz, das Vereinigte Königreich, die Türkei und Russland dazu auffordern, ihre Treibbausgasemissionen zu verringern.

Ich habe mich bei solchen Klagen bisher immer gefragt, wie viel sie wirklich bewirken können. Und wie vieler Klima-Urteile es noch bedarf, damit sich etwas bewegt. Umso erhellender war es, als ich diese Fragen kürzlich mit meinem Kollegen Fred Grimm der Top-Umweltjuristin Christina Voigt stellen konnte – das Interview lesen Sie in unserer aktuellen Ausgabe „Die Dunkelmänner“. „Es gibt zwar kein Menschenrecht auf ein stabiles Klima“, erklärt darin die Jura-Professorin von der Universität Oslo. „Aber das Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf Privatsphäre und auf eine gesunde Umwelt.“ Und genau diese Rechte bedrohe die Klimakrise.

Dass übrigens wie im jüngsten Fall in Straßburg sechs Anwälte gegen achtzig antreten müssen, sei nicht unüblich, erklärte uns Voigt – die Gegenseite rüstet stark auf und nimmt damit die Sache offenbar ernst. Hoffnung mache da die junge Generation von Anwältinnen und Richtern in spe, die bei ihr studieren. „Die jungen Menschen, die jetzt ihr Studium anfangen, sind mit dieser Klimaherausforderung aufgewachsen, für die ist das hautnah spürbar.“ Da kommt also was auf die Konzerne und Regierungen zu – vielleicht gehen ihnen ja eines Tages die Rechtsbeistände aus.

Einspruch für die Zukunft

Und noch etwas fand ich interessant im Gespräch: Die Justiz schaut voraus. Das stärkste Argument sei es, dass alles, was man beim Klimaschutz jetzt nicht mache, in der Zukunft viel schlimmer und sehr viel teurer werde. Es sei wichtig, diese Langzeitperspektive rechtlich geltend zu machen. Stehen Menschenrechte auf dem Spiel, ist das keine Kleinigkeit. „Da sind die Staaten verpflichtet zu handeln, und genau dazu sind momentan neun Fälle vor dem Europäischen Menschengerichtshof anhängig.“ Einer davon wird nun auf großer Bühne verhandelt. Bis 2024 soll das Urteil fallen – wir bleiben dran.

Zu den einfachsten Klimaschutzmaßnahmen, die jede und jeder umsetzen kann, gehört eine möglichst tierfreie Ernährung: Vorige Woche wollten wir von Ihnen wissen, wie Sie es mit dem Fleischkonsum halten. Das Ergebnis hat uns überrascht: 32,9 Prozent ernähren sich vegetarisch und 13,3 Prozent vegan. 41,2 Prozent gaben an, nur Bio und eher selten Fleisch zu essen, nur 12,5 Prozent essen Fleisch, ohne darauf zu achten. Damit sind Sie den übrigen Deutschen insgesamt weit voraus, von denen laut neuesten Umfragen neun Prozent vegetarisch essen und drei Prozent vegan – Tendenz steigend.

In dieser Woche würden wir gern aus gegebenem Anlass von Ihnen wissen: Denken Sie, dass Klimaklagen etwas bewirken können? Wenn Sie mögen, stimmen Sie gern hier ab. Die Ergebnisse erfahren Sie dann wie immer in der nächsten Wochenauslese.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Ein Hinweis in eigener Sache: Wir möchten Sie herzlich zu unserer nächsten Videokonferenz am Donnerstag, den 12. Oktober um 18 Uhr einladen – anlässlich unserer Ausgabe über die Intelligenz der Tiere, die kommende Woche erscheint. Was mögen Sie am Magazin? Was weniger? Welche Themen schätzen, welche vermissen Sie? Wenn Sie Lust haben, uns Ihre Meinung zu sagen und uns besser kennenzulernen, melden Sie sich gern per Antwort an diese Mail an oder unter gpm@greenpeace-magazin.de. Wir schicken Ihnen dann eine Einladung.

Wenn Sie mögen, leiten Sie diese Wochenauslese gern weiter. Abonnieren können Sie sie übrigens hier. Und wenn Sie auch unsere Presseschau zu Umwelt- und Klimathemen lesen möchten, können Sie sich hier dafür anmelden – dann halten wir Sie montags bis freitags auf dem Laufenden. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sind!

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Redakteur Thomas Merten über den wichtigsten Gerichtstermin der Woche
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Klimaleugner vor Gericht

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"All the leaves are brown/And the sky is grey/I’ve been for a walk/On a winter’s day/I’d be safe and warm/If I was in LA/ California Dreaming/On such a winter’s day," sangen The Mamas & the Papas 1965 (Braune Blätter, grauer Himmel, Winterspaziergang – in Los Angeles wäre es sicher und warm; Träumen von Kalifornien an solch einem Wintertag.)

Ich will Sie jetzt nicht auf den kalendarischen Herbstanfang an diesem Wochenende einstimmen und schon gar nicht Tourismuswerbung für Kalifornien machen, obwohl zahllose Popsongs von diesem Sehnsuchtsort handeln. Aber der US-Bundesstaat, für sich genommen die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat auch handfeste Probleme. Verschuldung, Arbeitslosigkeit und Lebenshaltungskosten explodieren, Menschen schuften in prekären Jobs, viele schlafen (trotz Job) in ihren Autos oder in Zelten.

Und dann wäre da ja noch die Klimakrise, die den Staat immer wieder mit Waldbränden, Hitzewellen, Rekorddürren, Tropenstürmen oder Überschwemmungen beutelt. Irgendwer muss dafür zur Verantwortung gezogen werden, sagte sich die (demokratische) Regierung in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento und erhob Klage gegen die fünf großen Ölkonzerne BP, Chevron, Exxon, Shell und Conoco Phillips und den Verband American Petroleum Institute. Seit Jahrzehnten, so Gouverneur Gavin Newsom, hätten die Ölmultis wider besseres Wissen die Folgen der Nutzung fossiler Energien heruntergespielt und Falschinformationen verbreitet.

Tatsächlich ist mittlerweile gut belegt, dass etwa Exxon seit Ende der Siebzigerjahre bestens Bescheid wusste über den Treibhauseffekt und seine möglichen Folgen. Als die Wissenschaft ein paar Jahre später immer lauter Alarm schlug, wurde der Konzern aktiv – aber nicht, indem er die Verbrennung von Öl und Gas drosselte, sondern indem er gemeinsam mit anderen Unternehmen die Global Climate Coalition gründete. Einziger Daseinszweck der Lobbygruppe: Zweifel an der Forschung schüren, um zu verhindern, dass Regierungen allzu übereifrig Maßnahmen zur Eindämmung der Klima-Emissionen ergreifen. Damit waren die „organisierten Klimaleugner“ (Wikipedia) auch äußerst erfolgreich.

Mit der Klage will Kalifornien nun die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für künftige Klimaschäden erreichen. Sollte sie damit erfolgreich sein, dürfte das Signalwirkung für kleinere US-Bundesstaaten haben. Derzeit klagen auch Connecticut, Delaware, Massachusetts, Minnesota, New Jersey, Rhode Island und Vermont gegen “Big Oil“, ganz abgesehen von diversen Städten und einer großen Zahl von Privatpersonen, die ihrerseits auch staatliche Institutionen verklagen.

Weltweit haben sich die Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Klimawandel seit 2017 verdoppelt, wie eine Studie des UN-Umweltprogramms UNEP und des Sabin Center für Klimarechtsprechung an der New Yorker Columbia-Universität festgestellt hat: 2180 Fälle haben die Forschenden gezählt, davon mehr als 1500 allein in den USA. Es klagen Städte und Gemeinden, pazifische Inselstaaten und Umweltverbände, junge Menschen, Landwirte, Indigene, Seniorinnen…

Dank der Attributionsforschung kann die Wissenschaft den Anteil der Erderhitzung an Wetterextremen mit katastrophalen Folgen immer besser berechnen, das macht es Klägerinnen und Klägern leichter. Doch auch wenn Gerichte, wie in der Vergangenheit bereits geschehen, pro Klimaschutz urteilen, für Regelwerke gegen den Anstieg der CO2-Emissionen ist weiterhin die Politik verantwortlich. Da werden dann auch gern mal mit Blick aufs Wahlvolk Maßnahmen verschoben wie in Großbritannien oder Klimaschutzgesetze entschärft wie in Deutschland.

Die Gerichtsverhandlungen werden wohl kaum so dramatisch ablaufen wie in amerikanischen Anwaltsfilmen oder -serien, sicher wird auch nicht jede mit einem Erfolg enden, aber zu siegesgewiss sollten sich die Ölkonzerne auch nicht sein. Da könnten sie mal die Hersteller bleihaltiger Farbe fragen, die trotz ihres Wissens um die Schädlichkeit ihrer Produkte diese weiter bewarben und vertrieben. Kalifornische Bezirke und Gemeinden klagten, die Sache endete mit einem teuren Vergleich: 305 Millionen US-Dollar zahlten die Unternehmen in einen Entschädigungsfonds. Die Summe dürfte bei Klimafolgeschäden um einiges höher liegen.

Macht gar nichts, die Öl- und Gasindustrie hat jahrzehntelang prächtig verdient mit der Zerstörung der Welt. Nachzulesen im aktuellen Greenpeace Magazin mit dem passenden Titel „Die Dunkelmänner“.

Weg also von fossilen Brennstoffen, hin zu Wind und Sonne: In unserer letzten Ausgabe der Wochenauslese wollten wir von Ihnen wissen, was Sie von einer Solarpflicht für Dächer halten. Sie haben abgestimmt: 67,7 Prozent von Ihnen sind dafür, 29,4 Prozent möchten Sie nur für Neubauten einführen – und nur 2,8 Prozent stimmten dagegen. Diese Woche möchten wir gern von Ihnen wissen: Essen Sie Fleisch? Oder zählen Sie zu den mittlerweile über zehn Prozent der Deutschen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren? Abstimmen können Sie hier. Die Ergebnisse erfahren Sie wie immer in der nächsten Wochenauslese.

Zuletzt noch ein Hinweis in eigener Sache: In dieser Woche fand die erste Videokonferenz des Greenpeace Magazins statt. Wir haben uns sehr über die rege Teilnahme gefreut und darüber, mit unseren Leserinnen und Lesern ins Gespräch zu kommen. Wir möchten den Austausch mit Ihnen gern fortsetzen und Sie herzlich zu unserer nächsten Videokonferenz am Donnerstag, den 12. Oktober um 18 Uhr einladen. Was mögen Sie am Magazin? Was weniger? Welche Themen schätzen, welche vermissen Sie? Wenn Sie Lust haben, uns Ihre Meinung zu sagen oder uns besser kennenzulernen, melden Sie sich gern per Antwort an diese Mail an oder unter gpm@greenpeace-magazin.de. Wir schicken Ihnen dann eine Einladung.

Wenn Sie mögen, leiten Sie diese Wochenauslese gern weiter. Abonnieren können Sie sie übrigens hier. Und wenn Sie auch unsere Presseschau zu Umwelt- und Klimathemen lesen möchten, können Sie sich hier dafür anmelden – dann halten wir Sie montags bis freitags auf dem Laufenden. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sind!

Ich wünsche ein ganz und gar nicht düsteres Wochenende!

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Redakteurin Kerstin Eitner findet es nur gerecht, wenn Ölmultis auf der Anklagebank landen
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Von den Belastungsgrenzen

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ich kann in einer Woche wie dieser nicht einfach so tun, als sei nichts gewesen. Binnen weniger Tage erreichten uns schreckliche Bilder aus zwei nordafrikanischen Ländern, zwei Nachbarn Europas also: In Marokko und Libyen starben jeweils Tausende Menschen durch Katastrophen. In beiden Fällen ist das Leid der Überlebenden, die Freunde, Verwandte oder gar Kinder verloren haben, unermesslich. Und doch unterscheiden sich die beiden Ereignisse.

Denn wenn uns wieder einmal eine Katastrophenmeldung erreicht, stellt sich inzwischen unvermeidlich die Frage: Könnte die Erderhitzung – und damit der Mensch – bei der Entstehung des Unglücks eine Rolle gespielt haben? Bei Erdbeben wie in Marokko, genauso wie bei Vulkanausbrüchen oder Tsunamis durch Seebeben, ist der Fall klar: Es sind in all ihrer Monstrosität schlicht Naturkatastrophen. Menschen tragen allenfalls eine Mitschuld, wo Bausubstanz, Sicherheitsmaßnahmen oder Warnsysteme versagt haben. 

Bei wetterbedingten Katastrophen ist das heute anders: Die Wahrscheinlichkeit, dass der anthropogene Klimawandel die Entstehung eines Sturms, einer Hitzewelle, einer Dürre oder Überflutung ausgelöst oder sie verstärkt haben könnte, wird immer größer. Die World Weather Attribution Initiative liefert zu Extremwetterereignissen und klimabedingten Katastrophen seit einigen Jahren im Nachgang wissenschaftliche Analysen. Demnach ist die extreme Julihitze in Teilen Nordamerikas, Europas und Chinas infolge des Klimawandels „deutlich wahrscheinlicher“ geworden, und auch die Bedingungen, die zu Beginn des Sommers die großflächigen Waldbrände im Osten Kanadas begünstigt haben, treten nun mit „mehr als doppelt so großer Wahrscheinlichkeit“ auf.

Für das Sturmtief „Daniel“, das in der vergangenen Woche erst Griechenland Rekordregen brachte, dann übers Mittelmeer zog und schließlich auf katastrophale Weise das Bürgerkriegsland Libyen heimsuchte, gibt es eine solche Analyse noch nicht. Doch eine Verbindung zum Klimawandel ist auch hier wahrscheinlich: Forschende haben längst heftigere – nicht häufigere – Wirbelstürme über dem Mittelmeer im Zuge des Klimawandels prognostiziert. Ihre Energie und die enormen Wassermengen ziehen solche rotierenden Wettersysteme aus hohen Oberflächentemperaturen im Meer. Und tatsächlich hat sich das Mittelmeer im Sommer 2023 so stark aufgeheizt wie nie zuvor.

Natürlich spielte in Libyen, wo eine gigantische Flutwelle ganze Stadtviertel der Hafenstadt Derna hinwegspülte, auch der menschliche Faktor vor Ort eine Rolle. Dass die beiden oberhalb der Stadt gelegenen Staudämme, die die Wassermassen nicht zurückhalten konnten, nicht im besten Zustand waren, ist in einem zerrissenen und bitterarmen Land wie Libyen naheliegend.

Aber dass die Dämme schlagartig barsten, also bei einer bestimmten Wassermenge ihre Belastungsgrenze überschritten war, veranschaulicht eine bedeutende Tatsache: Am Ende kann eine kleine Menge den Ausschlag geben, ob es zur Katastrophe kommt oder nicht. Deshalb ist jede Ausrede, um konsequenten Klimaschutz auf die lange Bank zu schieben – sei es um ein Jahr, eine Legislaturperiode oder ein Jahrzehnt, grundfalsch. Der Klimawandel verursacht Katastrophen, schon heute.

Für viele Menschen ist das ein Grund, gar keine Nachrichten mehr zu schauen, ein menschlich verständlicher Impuls. Vor zwei Wochen fragten wir in der Wochenauslese: „Meiden Sie aufgrund der vielen Krisenmeldungen die Nachrichten?“ Immerhin 55,4 Prozent der Befragten gaben an, sich durch Katastrophenmeldungen nicht von ihrem Medienkonsum abhalten zu lassen. 34,4 Prozent weichen „manchmal“ aus und 10,2 Prozent unserer Leserinnen und Leser machen mittlerweile in der Tat dicht, wenn es um die nächste Krisenmeldung geht.

Wie die folgende zum Beispiel. Denn das Wort „Belastungsgrenze“ kam mir auch deshalb in den Sinn, weil ein internationales Forschungsteam im Fachblatt Science Advances gerade einen alarmierenden Bericht über den Zustand unseres Planeten veröffentlicht hat: Sechs von neun „planetaren Grenzen“, innerhalb derer der „sichere Handlungsraum der Menschheit“ liege, sind demnach bereits überschritten – darunter die Erderwärmung, die Versauerung der Ozeane sowie der Verbrauch von Süßwasser und Naturflächen. In fast allen von den Forschenden definierten Bereichen, die die Stabilität und Widerstandskraft des Erdsystems als Ganzes beeinflussen, hat sich die Lage seit dem letzten Bericht 2015 zugespitzt – mit Ausnahme des Ozonlochs, das sich etwas geschlossen hat. Immerhin ein Hoffnungsschimmer.

Aber nicht der einzige: Denn es gibt einige Nachrichten, die in diesen Tagen der Katastrophen beinahe untergehen. Fatih Birol, Chef der allen Ökoträumereien unverdächtigen internationalen Energieagentur IEA, verkündete diese Woche: „Wir erleben den Anfang vom Ende der Ära der fossilen Brennstoffe.“ Mit dem immer schnelleren weltweiten Ausbau von Wind- und Sonnenenergie sei ein „historischer Wendepunkt“ erreicht. Er erwartet zukünftig, dass sich Investitionen in fossile Energieträger in naher Zukunft ökonomisch einfach nicht mehr rechnen würden, weil deren Erschließung gegenüber Wind- und Solarkraft absurd teuer werden wird. Das mögliche Erreichen von „Belastungsgrenzen“, aber diesmal für das fossil gebundene Kapital – was für ein versöhnlicher Gedanke zum Start in ein hoffentlich sonniges Wochenende! Und der geeignete Auftakt zu unserer neuen Umfrage. Wir möchten von Ihnen wissen: Sollte es in Deutschland eine Solarpflicht für Dächer geben?

Bitte antworten Sie hier. Das Ergebnis verraten wir Ihnen kommende Woche!

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Redakteur Wolfgang Hassenstein über die Logik der Katastrophe – und eine Prise Hoffnung
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Im Allgemeinen nützlich

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wer regelmäßig die Nachrichten verfolgt, mag mit Grausen auf die politische Situation in vielen Ländern blicken und sich freuen, im eigenen Land eine aktive, gut organisierte und sogar steuerlich begünstigte Zivilgesellschaft zu haben, die sich für Menschenrechte und Umweltschutz, gegen Rechtsextremismus und für eine lebendige Demokratie engagiert.

Doch seit Jahren findet, meist eher hinter den Kulissen, ein zähes Ringen vieler Initiativen um ihre Gemeinnützigkeit statt, und es kommt gar nicht so selten vor, dass sie in diesem Kampf unterliegen – erst gegen das zuständige Finanzamt, das darüber entscheidet, und dann vielleicht auch vor Gericht. Dabei kann die Steuerabzugsfähigkeit von Spenden, Grundpfeiler der Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen (NROs), über deren Sein oder Nichtsein entscheiden.

Die globalisierungskritische Organisation Attac erwischte es 2014. Nach mehreren Jahren juristischen Ping-Pongs befand der Bundesfinanzhof 2019: „Einflussnahme auf politische Willensbildung und öffentliche Meinung ist kein eigenständiger gemeinnütziger Zweck im Sinne von § 52 der Abgabenordnung.“ Nun liegt der Fall beim Bundesverfassungsgericht.

Campact, Change.org (später innn.it), die Bundesvereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) –  die Liste wurde länger. Seit Januar 2022 müssen gemeinnützige Organisationen im Sinne „geistiger Offenheit“ zudem immer alle Seiten zu Wort kommen lassen. Politische Bildung dürfe nicht darauf abzielen, „die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen zu beeinflussen“.

Nur zu gern nutzen Rechtsextreme wie die AfD das aus, zeigen unliebsame Initiativen bei den zuständigen Finanzämtern an oder stellen entsprechende Anträge auf Bundes- und Landesebene. So büßte das Demokratische Zentrum Ludwigsburg seinen gemeinnützigen Status vorübergehend ein, weil es Rechtsradikalen den Zugang zu seinen Veranstaltungen verwehrt hatte. Auch die Naturfreunde Thüringen rangen ein Jahr lang mit dem Finanzamt, weil sie sich gemäß ihrer Satzung auch für Demokratie und Toleranz eingesetzt hatten, zum Beispiel nach der Wahl des FDP-Manns Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD.

Die Gemeinnützigkeit wankt auch, wenn Plattformen wie innn.it kostenlose Petitionen gegen Unternehmen auf ihre Website stellen. Entweder löschen oder Gebühren erheben, forderte das Berliner Finanzamt Ende letzten Jahres. Die NRO reichte Klage ein. 2018 kam die CDU auf die glorreiche Idee, der Deutschen Umwelthilfe die Gemeinnützigkeit abzuerkennen (es ging um Dieselverbote in deutschen Städten). Auch Greenpeace, der BUND und andere Umweltschutzorganisationen müssen immer mal wieder um ihren Status bangen. Als könnte man Umweltschutz völlig losgelöst von aller Politik betreiben.

Der Thinktank „Zivilgesellschaft in Zahlen“ (ZiviZ) hat ermittelt, dass sich fünf Prozent der zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Sorge um ihre Gemeinnützigkeit nicht politisch beteiligen, also Selbstzensur üben. Fünf Prozent, das klingt wenig, es sind aber immerhin 30.000 Vereine.

Handwerk hat goldenen Boden

Es braucht also dringend eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. Die Ampel hat das im Koalitionsvertrag auch vereinbart. Bloß ist leider bislang nichts geschehen, obwohl ja, wie der für dieses Vorhaben verantwortliche Finanzminister Christian Lindner, FDP, es gerade so schön formulierte, in der Regierung „gehämmert und geschraubt“ werde.

Nur leider an den falschen Stellen. Das Bundesinnenministerium nämlich will, so steht es in seinem Haushaltsplan, die Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) um 20 Millionen Euro kürzen, von 96 auf 76 Millionen Euro. Könnte mir bitte mal jemand erklären, wie man so die Demokratieförderung stärken will?

Statt des Parteichefs ist diese Woche dann der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr in den Hobbykeller hinabgestiegen, und bevor ihm Lindner noch hinterherrufen konnte: „Denk an die Schalldämpfer!“, kam Dürr mit einem verstaubten, mit Spinnweben überzogenen und halb zerlegtenAtomkraftwerk wieder ans Tageslicht und verkündete, seine Partei werde über einen Stopp des Rückbaus der „noch funktionierenden Kernkraftwerke“ beraten.

Ob sich die FDP wohl mit dem Netzwerk „Replanet“ zusammenschließt, das, angeführt von der 18-jährigen schwedischen Aktivistin Ia Anstoot, sich für Atomkraft einsetzt und gegen Greenpeace protestiert? Wobei die Regierung in ihrem Heimatland gerade geschwind ein Statement der Umwelt- und Klimaschutzministerin Romina Pourmokhtari von der Website des Ministeriums entfernen ließ, in dem es geheißen hatte, Schweden wolle bis 2040 „mindestens zehn Reaktoren“ bauen. So ein Ziel gebe es nicht, erklärte ein anderer Regierungsvertreter.

Wir hämmern und schrauben kommende Woche die nächste Ausgabe des Greenpeace Magazins zusammen. Mal sehen, ob danach was Neues aus der Ampelwerkstatt gekommen ist. Ein Gesetzentwurf für ein neues Gemeinnützigkeitsrecht wäre doch mal ein hübsches Werkstück.

Ich wünsche Ihnen schöne goldene Spätsommer- oder Frühherbsttage!

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Redakteurin Kerstin Eitner würde sich über ein renoviertes Gemeinnützigkeitsrecht freuen
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